„DIE SCHÜLER DER MADAME ANNE“ von Marie-Castille Mention-Schaar (Co-B + R; Fr 2014; Co-B: Ahmed Dramé; K: Myriam Vinocour; M: Ludovico Einaudi; 105 Minuten; Start D: 05.11.2015); SIE heißt tatsächlich ANNE ANGLAIS, und sie ist eine Heldin des gemeinen Alltags. Ihre auf wahre Ereignisse basierende Geschichte unterstreicht: Es geht auch anders. Als immer nur zu jammern. Und vom Verlieren zu berichten. Auch „gewinnen“ ist machbar. Möglich. Sogar in den Banlieues. D e r Problemzone von Paris.
Eine private Bemerkung vorab: Der (Gruppen-)Besuch in Auschwitz im Jahr 1963 hat mein Leben entscheidend verändert.
Das Léon Blum-Gymnasium im Pariser Vorort Créteil. 29 Nationalitäten tummeln sich hier. Die 10b-Klasse ist eine Kein-Bock-Stätte. Hier sind viele, die der Meinung sind, dass sie sowieso später keine Chance haben. Auf irgendwas. Innerhalb der französischen Gesellschaft. Deshalb „poltern“ sie. Betrachten ihr Klassenzimmer als Selbstdarstellungsbühne. Ob der Muslim Malik, die aggressive Mélanie oder der stille Théo, man ist auf Resignation und Krawall gebürstet. Etwas zu lernen…, pure Zeitverschwendung. Als die engagierte (Geschichts-)Lehrerin Anne Gueguen (ARIANE ASCARIDE) die Klasse übernimmt, begegnen ihr Unwille und Provokationslust. Die Stimmung ist gereizt. Doch aufgeben, ist nicht Madames Sache. Die unscheinbare kluge Frau versteht es, mit geschicktem Umgang und reizbaren Fragen die Muster der Kids zu durchbrechen. Ohne dafür einen amtlichen Auftrag zu haben, meldet sie die Klasse für einen renommierten, nationalen Schülerwettbewerb an. Um dann ihre Schüler in diese gemeinsame freiwillige Aufgabe zu verwickeln. Thema: Französisch-jüdische Jugendliche und der Holocaust. „Kinder und Erwachsene im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager“.
Natürlich stößt Madame zunächst auf Desinteresse. Ignoranz. Auch der Schulleiter ist „verstört“. Doch sie bleibt hartnäckig. Schafft es, die Meisten einzubinden. Ein Museumsbesuch verändert vieles. Der Besuch des Zeitzeugen Léon Zyguel alles, der als 15jähriger verhaftet und zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder ins KZ deportiert wurde. Er kann ihnen berichten, vom Lager, von den menschenunwürdigen Zuständen dort, von den grausamen Ereignissen, von den Gaskammern. Seine positive Energie und seine starke Überzeugung, im Leben gegen Rassismus und für die Würde und das Leben einzustehen, beeindruckt viele der Klasse. Die zu einer Gemeinschaft zusammenrücken und mehr und mehr mitbekommen, begreifen, wie enorm wichtig und wertvoll Freundschaft und Solidarität sein können. Anstatt ewiger Dauer-Kampf und -Krampf.
Hört sich möglicherweise nach Märchen an. Mit Kitsch-Charme. Und verklärendem Gut-Gewusel. Weil hier letztlich „etwas klappt“. Sich positiv (ver-)ändert. Und nicht in großem Jammer endet. Von wegen: Der mit Laien und Profis hergestellte Film ist ein beeindruckender und sehr atmosphärischer Spannungsfilm; besetzt mit überzeugenden Charakteren, deren reales Spiel sensibel an die Birne knallt. Und von dem als Fazit gerne zu übernehmen ist: Wenn schon sonst niemand hilft und das Bildungssystem aufhört zu bilden, hilf‘ dir doch selbst. Zum Beispiel innerhalb der kleinen Gemeinschaft: Klasse. Eine Chance. Zum Probieren. Natürlich, wo gibt es schon solch eine engagierte „Vorturnerin“ wie Madame Anne. Deren unerschütterliches Selbstbewusstsein überzeugt, und die großartig-charismatisch und unaufdringlich-präsent sowie wunderbar authentisch von der französischen Schauspielerin ARIANE ASCARIDE („Schnee auf dem Kilimandscharo“) gespielt wird.
„Die Schüler der Madame Anne“ oder: Es hat mal „etwas geklappt“. Tatsächlich. Im gereizten Gemeinwesen: Gesellschaft. Was zum Denken und Nachmachen auffordert. Reizt. Emotional nachdenklich unter die Haut geht. Dabei ist der Film keine naive Lehr- und Leer-Stunde, sondern ein Spielfilm mit sehr viel Köpfchen; zum Begreifen und Mögen; zudem richtig-wichtig sowie unterhaltsam-spannend: Also anregend im besten Kopf- und Bauch-Sinne. Was kriegen doch die Franzosen auf hervorragende Weise wunderbar-schwierige Filme zustande (= 4 PÖNIs).