PÖNIs BLOG (207): Abschied von WOLFGANG KOHLHAASE; „IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT“; „THE PASSENGER“; „ME, WE“; „VESPER CHRONICLES“; TV-TIPP; Song: The Passenger

(Fotoquelle: Petr Novák, Wikipedia, Wolfgang Kohlhaase KVIFF, CC BY-SA 3.0)

1.)   ABSCHIED. Der Drehbuch-Autor, Regisseur und Schriftsteller WOLFGANG KOHLHAASE, geboren 1931 in Berlin, ist am 5. Oktober 2022 gestorben. Er war seit 1972 Mitglied der Akademie der Künste. Immer wieder wählte er seine Geburtsstadt zum Ausgangspunkt seiner Geschichten. In den ersten filmischen Arbeiten, wie „Alarm im Zirkus“ (1954) und dem legendären „Berlin – Ecke Schönhauser“ (1957), zusammen mit dem Regisseur Gerhard Klein, ist es die geteilte Stadt; in „SOLO SUNNY“ (1979) gelingt ihm eine ebenso reizvolle wie präzise städtische Milieuschilderung. Mit dem Regisseur Konrad Wolf verband ihn noch ein weiteres Grundthema: der Zweite Weltkrieg und die Rolle des Einzelnen darin. Mit ihm realisierte er „Ich war neunzehn“ (1967) und „Mama, ich lebe“ (1977). Nach dem Ende der DEFA gelang es Wolfgang Kohlhaase nahtlos weiterzuarbeiten. Regisseure wie Andreas Dresen und Matti Geschonneck wussten die Feinheiten seiner Drehbücher umzusetzen. Wolfgang Kohlhaases Werk umfasst eine Zeitspanne von fast 60 Jahren und wurde vielfach ausgezeichnet. Zuletzt war er auf Lesereise mit seinem Buch „Um die Ecke in die Welt: Über Filme und Freunde“. „DENKEN IST WIE EIN LICHT“, stammt von ihm, „es geht in jede Richtung“. Ein trauriger herzlicher Abschied.

2.)   MENSCHEN UND MODE. In der DDR. Ging das überhaupt? Titel = „IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT“ von Aelrun Goette (B + R; D 2021; K: Benedict Neuenfels; M: Boris Bojadzhiev; 101 Minuten; deutscher Kino-Start: 6.10.2022). Manchmal passieren seltsame Filmdinge. Wenn Zelluloid „brennt“. Also prächtig unterhält. Wie  – wenn ein ehemaliger WEST-Berliner staunen darf. Zum Beispiel über AELRUN GOETTE, Drehbuch-Autorin und Regisseurin. Die in den 80er Jahren auf der Straße in Ostberlin als „Mannequin“ entdeckt wurde. Sie modelte für den „VEB Exquisit“, war auf dem Cover der „Sibylle“ und stand für Fotografen vor der Kamera. Der Film basiert auf ihrem Leben und ist von wahren Begebenheiten inspiriert.

„In einem Land, das es nicht mehr gibt“ hießen Models Mannequins. Auch ohne Laufsteg wagte man den aufrechteren Gang. Es existierte Mut und Wut, Eingriff und Zugriff, Untergrund und Schönheit. „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ hieß die Freiheit zwar Freiheit, doch man musste nach ihr suchen und sie sich – mehr oder weniger heimlich – nehmen. Es wurde geträumt, gelesen, geweint, geliebt, gestaltet, gefeiert. Und gearbeitet. Und verhaftet. Ost-Berlin, Frühsommer 1989. Wo Aelrun Suzie  heißt, 19 Jahre jung ist und von der Darstellerin-Debütantin MARLENE BUROW exzellent sensibel vereinnahmt wird. Das Abitur winkt, und danach will Suzie Literatur studieren. Weil sie aber George Orwell („1984“) liest und dabei „erwischt“ wird – „Ich bin ein asoziales Subjekt“ -, muss sie sich im Kabelwerk Oberspree als „sozialistische Zerspannungsarbeiterin“ bewähren. Schule out, ab also in die Produktion. Wo es vor überzeugten „Genossen/Innen“ wimmelt. Doch dann geschieht etwas wunderbar-sonderbares: ein Schnappschuss in der morgendlichen Straßenbahn öffnet Suzie die Tür in die glamouröse Welt der Mode. Sie landet auf dem Cover des Modejournals Sibylle, der ‚Vogue des Ostens‘, wo die Chefredakteurin Elsa Wilbrodt (CLAUDIA MICHELSEN/auch bekannt als Kriminalhauptkommissarin Doreen Brasch in der ARD-Krimireihe „Polizeiruf 110) ihr die Chance bietet, möglicherweise dem sozialistischen Fabrikalltag entkommen zu können. Allerdings sind die Hindernisse dafür/dabei enorm. Beruflich wie privat. Schließlich ist vieles „sozialistisch“ reglementiert. Da musst du tricksen und listig hantieren. Um doch anzuecken.

Kreative Energie ist unterwegs: „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ beziehungsweise – wenn Extreme aufeinanderprallen. Auf der einen Seite DIE SYSTEMVERTEIDIGER, die ekligen „festen“ Funktionäre, auf der anderen die bunten „Eroberer“, die leidenschaftlichen Phantasiegestalter, mit ihren bunten Fragen: Was ist es wert, Träume zu realisieren? Um zum Beispiel Mode aus Duschvorhängen und sonstigem verfügbaren Material zu erfinden? Und zu präsentieren? Zu verkaufen? Und: was bedeutet es, inmitten dieses modischen Freiraums auf selbständige Emotionen und Entscheidungen zu pochen? Suzie bekommt „zu tun“. Lernt – auch unangenehme – Konkurrentinnen „kennen“ und verliebt sich in den rebellischen Fotografen Coyote (DAVID SCHÜTTER), der schon längst als beruflicher Profi eigene heimliche Wege geht. Suzie beginnt sich auf kreative Nischen einzulassen. Sie ist doch nun „mehr“.

Das Ensemble ist exzellent. Die Figuren sind glaubhaft. Ihre Gedanken und Bewegungen stimmen. Kommen ausgesprochen clever-unterhaltsam ‚rüber. „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ ist ein Film, der erst in der letzten Viertelstunde zerfleddert. Zu viele „Dinge“ schnell noch ab-pustet. Mit Themen wie Positionen und Lösungen. Und dem Hinweis  –  3 Monate später fällt die Mauer. Klar doch.

Fazit: Wie ist das doch eigentlich heute – gewesen in Sachen Sehnsucht und Enge / Sozialismus und Eleganz / Freiheit, für die wir welchen Preis dafür zu bezahlen bereit sind? Ein stimmiger wie lebendiger und dabei sehr intelligent-unterhaltsamer deutsch-deutscher Spannungsfilm (= 4 PÖNIs).

3.)   ALIEN AN BORD. Titel = „THE PASSENGER“ von Raúl Cerezo und Fernando González Gómez (Spanien 2021; B: Luis Sánchez-Polack; K: Ignacio Aguilar; M: Alejandro Román; 91 Minuten; deutscher HEIMKINO-„Pierot Le Fou“-Start: 7.10.2022). SO EINEN FILM MAG ICH! Einfache, übersichtliche, raffinierte Story; mit viel Horror und reichlich Komödie, snuffige Temperamentsausbrüche, ausgesprochen blutige Eskapaden. Aus Spanien. Woher auch sonst. Denn dort vermengt man gerne das Extreme mit dem Lustigen. Wie hier. Wo sich vier Personen in einem herausgeputzten alten Van aufhalten, um sich von A nach Dorf- Sonstwo fahren, also bringen zu lassen. Als da wären: Eine vornehme blonde Dame mit ihrer eigensinnigen, aufmüpfigen Tochter im Teenageralter, Marta (PAULA GALLEGO); eine alleinstehende, religiöse mit einer schwarzen Haar-Perücke ausgestatteten attraktiven Frau sowie Blasco (RAMIRO BLAS), ein ziemlich geschwätziger, zwielichtiger, in die Jahre gekommener einäugiger Fahrer, der von früheren Stierkämpfen schwärmt und mit reichlich frauenfeindlichen Sprüchen verbal-herumeiert. Gemischt mit klassischen Autoradio-Paso Doble-Klängen. Anfangs = die Route. Mit vielen Andeutungen. Dann wird eine Senora „versehentlich“ überfahren. Von Blasco. Und nicht liegengelassen. Sondern „mitgenommen“. So dass die Aufregungen starten. Können. Details – nö. Nur so viel: Wir, nein DIE Vier bekommen es zu tun mit Nebel-Horror, Straßen-Stierkampf, einem lebendigen blutigen swingenden Finger bei Marta und – vor allem – mit scharfen Alien-Attacken. Nach Verwandlungseskapaden. Details – nö. Denn „diese Viecher“ bewegen sich stürmisch. Zunächst, unbemerkt, hinter der im Wagen angebrachten Glasscheibe, also zunächst drinnen, im Auto, bevor es nach draußen geht, in die sympathisch-bedrohliche Wald-Region.

„The Passenger“ oder: halt ein typisches Spätvorstellungs-Heim-Kino-Movie! Mit enormer Schlagkraft. Von knurrigem Reiz

Also – alles klar? Nein? Ist doch egal. Hauptsache – der Grusel kommt zünftig in Fahrt. Antwort – er kommt. Irgendwann steht auf meinem Zettel was von DIE EINÄUGIGEN LEBENDEN TOTEN. Warum ich DAS notiert habe, weiß ich nicht mehr. Wird schon was Schlimmes bedeuten. Viel kunterbunt-prolliges passiert hier bei dieser kessen, reichlich unbändigen = unanständigen Schwarz-Moll-Horror-Komödie im Reiz-Stall. Geeignet zum exquisiten Anschauen. Auch weil: verunstaltet mit extrem viel B-Radau-Charme. Prima (= 3 1/2 PÖNIs).

4.)   REAL-EPISODEN. Titel = „ME, WE“ von David Clay Diaz (Co-B + R; Österreich 2021; Co-B: Senad Halibasic; K: Julian Krubasik; M: David Reichelt; 118 Minuten; deutscher Kino-Start: 6.10.2022). Vier geistig ineinander verwobene Geschichten handeln in dieser Tragikomödie von aktuellen Themen wie Flucht, Migration und unsrem alltäglichen Umgang damit in Europa. Marie, eine junge Freiwillige, fährt ans Mittelmeer, um zu helfen. Der halb starke Marcel gründet einen Geleitschutz für Frauen aus Angst vor angeblichen übergriffigen Migranten. Die Redakteurin Petra nimmt einen minderjährigen Flüchtling bei sich auf. Der Asylheimleiter Gerald wird von einem seiner Schützlinge auf eine harte Probe gestellt. Weiße Menschen wollen helfen, „helfen“ aber oftmals eigentlich nur sich. „Me, We“, das ist das kürzeste Gedicht aller Zeiten und bringt die Realitäten der gegenwärtigen Migrationsgesellschaft von pointiert bis beschämt auf den Punkt: Wer bin ich, und wer kann ich sein. Und sind die anderen wirklich so anders? (= 3 PÖNIs).

5.)   ZERSTÖRUNG. Titel = „VESPER CHRONICLES“ von Kristina Buozyté und Bruno Samper (Co-B + R; Litauen/Fr/Belgien 2021; Co-B: Brian Clark; K: Feliksas Abrukauskas; M: Dan Levy; 114 Minuten; deutscher Kino-Start: 6.10.2022). Die Welt ist kaputt. Zerstört. Dreckig. Vom Menschen. Der massiv eingegriffen und experimentierte hatte in die irdischen Überlebensmechanismen und dabei für viel Mist gesorgt hat. Eine Oligarchie gedeiht jetzt in geschlossenen Städten, genannt „Zitadellen“, während „der Rest“ ums Überleben kämpft. Vesper, ein cleveres 13-jähriges Mädchen (RAFFIELLA CHAPMAN) eine große Begabung im Bio-Hacking, die ihren gelähmten Vater pflegt, trifft auf die Überlebende eines abgestürzten Zitadellenschiffs. Gemeinsam bemühen sie sich fortan um ein Leben am verseuchten Boden. Getarnt als gefährliches Abenteuer. Der Film ging mir auf den Geist. Diese dystopische Alptraumvision wirkt wie eine Ansage auf unsere schlimme Erde von morgen. Das Unterhaltungs- und Mitteilungsinteresse wirkt mehr geborgt denn bedeutsam. Einzig der britische Schauspieler EDDIE MARSAN („Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“/2014) ist als Vespers brutaler Onkel eine interessante Zumutung. Ansonsten – dies hier ist eine filmische Fehlanzeige (= 1 PÖNI).

6.)   TV-TIPP = Dieser Film ist ein amerikanisches Science-Fiction-Drama aus dem Kinojahr 1973, dessen Qualität unbestritten ist. Und bleibt. Thema: Mögliche Folgen exzessiver Nutzung endlicher Ressourcen. Der Film erschien ein Jahr nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des  Club of Rome  und gehört somit zu den ersten Oködystopien. Die Vorlage lieferte das Buch „New York 1999“ von Harry Harrison. Originaltitel des Films: „Soylent Green“, deutscher: „… JAHR 2022 … die überleben wollen“. Von Richard Fleischer. CHARLTON HESTON spielt einen Polizisten im überbevölkerten New York von 2022, der einem ungeheuerlichen staatlichen Geheimnis auf die Spur kommt. Für Edward G. Robinson, der die Rolle des Sol Roth spielt, war es die letzte Filmrolle. ARTE zeigt am nächsten MONTAG, 10.10., ab 20.15 Uhr einen hervorragenden Klassiker!

7.)   MUSIK: Bin kürzlich im aktuellen Kino dem David Bowie-Film „Moonage Daydream“ begegnet. Dadurch kam ich mit dem (im Film allerdings nicht gespielten) Song „THE PASSENGER“ von IGGY POP in Kontakt. Der Song, der 1977 zum ersten Mal auf seinem Album „Lust for Life“ erschien, entstand während der Zeit, als Iggy Pop zusammen mit David Bowie in Westberlin lebte. Die Idee zum Text von „The Passenger“ sagte Iggy Pop, sei durch ein Gedicht von Jim Morison entstanden, in dem das moderne Leben mit einer Autofahrt verglichen wird, bei der man alles beobachten, aber nicht aus-, sondern nur umsteigen könne. Ich griff zu  – „THE PASSENGER“ von IGGY POP avanciert in dieser Woche zu meinem Lieblingssong: 

Wünsche eine stimmungsvolle Woche.

HERZlich:   PÖNI PÖnack

email:   kontakt@poenack.de

 

 

 

 

 

 

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