„OLEANNA“ von David Mamet (B+R, nach seinem gleichn. Theaterstück; USA 1993; K: Andrzej Sekula; 9O Minuten; Start D: 03.08.1995).
Im Oktober 1991 enthüllte die Juristin Anita Hill, Professorin an der Universität von Oklahoma, vor einem Ausschuss des amerikanischen Senats und vor dem wie hypnotisiert lauschenden amerikanischen Fernsehpublikum das unsittliche Verhalten, das Clarence Thomas 10 Jahre zuvor während seiner Kandidatur für den obersten Bundesgerichtshof angeblich an den Tag gelegt hatte. Es waren Anspielungen aus pornographischen Filmen, die er ihr angeblich beschrieben hat. Trotzdem wurde Thomas als 106. beigeordneter Richter des obersten Bundesgerichts mit 52 zu 48 Stimmen im Amt bestätigt. Ein Jahr darauf wurde David Mamets Theaterstück “Oleanna“ in Cambridge, Massachusetts, uraufgeführt. Der Zeitpunkt konnte nicht günstiger sein, denn die öffentliche Meinung in Amerika hatte die eingangs beschriebene Kontroverse nicht vergessen. Und in “Oleanna“ geht es genau um dieses Problem: Der Mann, die Frau, der verbale Clinch, die Konfrontation, das Rollenspiel und seine wechselhaften Seiten, die Anklage.
Der Mann heißt John. Er ist attraktiv, in den besten Jahren, verheiratet. Er hat einen Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät einer prominenten amerikanischen Universität. Er hat gerade sein erstes Buch veröffentlicht, steht kurz vor der Berufung zum Professor auf Lebenszeit und vor dem Kauf eines größeren Hauses. Carol heißt eine seiner Studentinnen, Sie sieht durchschnittlich aus, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie führt ein einsames Leben, hat Probleme mit dem
Lehrbetrieb und Angst, in Johns Kurs durchzufallen. Unangemeldet erscheint sie eines Tages bei John. Er will eigentlich weg, hat dringende
Termine, lässt sich aber dann doch auf einen längeren Disput mit ihr ein. Sie trinken Tee. und reden miteinander. Er ist dabei “führend“, gibt sich mal kumpelhaft, mal elitär, mal kritisch und stets als Besserwisser. Er hört sich zudem ganz offensichtlich gerne reden. Sie wirkt immer mehr verunsichert, irritiert, von ihm eingenommen und überrumpelt. Dann verspricht er ihr die Bestnote und bietet Privatstunden an. Sie fühlt sich gedemütigt. Wirft ihm geistige und physische Unterdrückung vor. Und klagt ihn wegen sexueller Belästigung und Diskriminierung an. John ist geschockt. Das nächste Gespräch führt er herbei. Doch jetzt beginnen sich die Rollen zu wenden. Sie bestimmt jetzt das Rede-Duell. Er versucht zu vermitteln, bittet um Verständnis, doch Carol besteht auf ihrer Leseart der Ereignisse. Sie gewinnt mehr und mehr an sprachlichem Führungsboden. Er sieht sich mehr und mehr in die Verlierer- bzw. Opfer-Ecke gedrängt. Als er sie einmal kurz an den Armen schüttelt, bezichtigt sie ihn der Vergewaltigung. Die Debatte eskaliert.
DAVID MAMET. Der 47jährige David Mamet zählt gegenwärtig zu den renommiertesten Autoren des zeitgenössischen amerikanischen Theaters. Sein Stück “Glengarry Glenn Ross“ wurde 1984 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 1992 verfilmt. Sein Oeuvre umfasst Theaterstücke, Drehbücher und den Roman “Das Dorf“, der im Frühjahr auch bei uns herausgegeben wurde. Außerdem: 3 Spielfilme, bei denen er selbst für Drehbuch und Regie verantwortlich war: “Haus der Spiele“/1987; “Things Change – Mehr Glück als Verstand“/1988 und “Homicide – Mordkommission“/1990. Mamet wird für intellektuelle Schärfe seiner Texte und für seine fast schon klinische Analyse amerikanischer Underdogs in der ganzen Welt verehrt und geschätzt. In dem Film “Oleanna“ adaptierte er erstmals ein eigenes Stück für die Leinwand. Dabei übernahm er mit DEBRA EISENSTADT und WILLIAM H. MACY auch die grandiose originale Bühnenbesetzung. Vor dem Hintergrund der in den USA erbittert geführten Debatte um “political correctness“ beschreibt Mamet das Paradoxe jeder klassischen Tragödie: Egal, wie man sich auch verhält, man tut immer das Falsche. Dabei geht es gar nicht um sexuelle Belästigung im engen Sinne, sondern um die Darlegung von Macht. Von Machtstrukturen und -verhältnissen. Von Ohnmacht und wie rasch sich die Dinge unter gesellschaftlichem Druck wandeln können. Wobei Macht natürlich auch immer etwas mit Sexualität zu tun hat, ohne dass es dabei überhaupt zu Berührungen kommen muss.
Es ist Hör-Kino. Zuhör-Kino. Die Sprache als Waffe. Nichts “bewegt“ sich. Nichts wird “gezeigt“. Visualisiert. Nur die Worte und die Reaktionen darauf. Diese äußerliche Unbeweglichkeit macht den Film zugleich reizvoll wie unerträglich. Man wird wütend, weil das „Gerede“ nicht aufhört, und doch ist man gepackt von so viel verbaler Eindringlichkeit und Intimität. Und wer gewinnt? Das muss jeder für sich und mit seinem Partner ausmachen. Aber Vorsicht: Der Autor und Regisseur David Mamet erklärt im Presseheft, dass er bei diesem intellektuellen Kammerspiel Pärchen gesehen habe, die vor der Aufführung zusammenkamen und danach verbittert alleine gingen. Stichwort: Parteinahme. Seien Sie also abschließend etwas ironisch gewarnt, wenn Sie sich den Film “Oleanna“ zu zweit ansehen: Er bzw. es ist nicht ganz ungefährlich…(= 3 ½ PÖNIs).