„NICHTS PASSIERT“ von Micha Lewinsky (B + R; Schweiz 2015; K: Pierre Mennel; M: Marcel Blatti; Titelsong: Heidi Happy; 92 Minuten; Start D: 11.02.2016); da hat sich die diesjährige Berlinale (mal wieder) einen richtig guten deutschsprachigen Filmhappen entgehen lassen. Denn dieser Film des 43jährigen Schweizer Drehbuch-Autoren und Regisseurs MICHA LEWINSKY, der auch hierzulande durch seinen Kinofilm „Die Standesbeamtin“ von 2009 bekannt ist, besitzt alle Qualitäten eines herausragenden Festival-Films. Und kann mit dem überragenden DEVID STRIESOW – als Hape Kerkeling in „Ich bin dann mal weg“ noch in den Kinos – einen voll punktenden Spitzenakteur.
Striesow ist Thomas. Thomas Engel. Ein Typ wie man ihn kennt. Und der – wenn man mal ehrlich tief in sich hineinschaut – stückweise bekannt ist. Vertraut ist. Thomas, der ewige fröhliche Ja-Sager. Abwiegler. Schönheitsredner. Immer eine „nette“ Lösung findend, wenn sich Schwierigkeiten auftun. Sich dabei aber nie eines unangenehmen Problems wirklich stellend. Motto: Leute, man kann doch über alles reden. Dann wird’s schon. Wieder gut. Konfrontation ist gar nicht sein Ding. Der konfliktscheue Thomas ist süchtig nach Harmonie. Als wir mit ihm erstmals konfrontiert werden, ist er bei einer Psychiaterin. Nicht aus freiem Willen, sondern aus Pflicht. Da muss es irgendwas „gegeben“ haben. „Und wer sind Sie?“, fragt die Ärztin? „Ein normaler netter Mann“ kommt zurück. Vor diesem „netten Mann“ schaudert es einem ein bisschen, ohne jedoch zunächst genau zu wissen, warum eigentlich. Die Vorahnung.
Obwohl weder seine Frau Martina (MAREN EGGERT) noch seine Teenie-Tochter Jenny (LOTTE BECKER) darauf Lust haben, verordnet Thomas der Familie einen Ski-Urlaub in den Schweizer Alpen. Zum friedlichen Familien-Vergnügen. Und weil er eben nie Nein sagen kann und vielleicht auch im Innern sich berufliche Vorteile davon verspricht, wird auch Sarah mitgenommen, die 15jährige Tochter seines Chefs (ANNINA WALT). Die aufkommende „Nervosität“ im Auto und dann vor Ort ignoriert der liebe Thomas. Dass seine Frau eigentlich längst die Partner-Schnauze voll hat und wieder mit dem Schreiben anfangen möchte ebenso wie die Rivalität zwischen den Mädchen.
Doch dann müsste er sich stellen. Einem Problem, dem er nicht mehr so einfach und glatt ausweichen kann. Sarah ist bei einem Dorffest möglicherweise vergewaltigt worden. Der moralische Kompass des Thomas Engel kommt ins Trudeln. Weil er die Konsequenzen wieder einmal scheut und glaubt, mit seinem Vogel Strauß-Taktieren ohne großen Schaden über die zahlreichen Problem-Runden zu kommen, entwickelt sich ein Chabrol-Thriller. Ein Gut-Bürger „bemüht“ sich: Listig, schleichend, hintergründig, mit überraschenden Wendungen, schlingernd, gemein. Schließlich soll die Idylle bewahrt bleiben.
Ein spannender Film. Von den lächelnden Abgründen eines eigentlich netten Menschen erzählend. Der eigentlich niemanden etwas zu leide tun kann. Will. Möchte. Eigentlich. Dem Unangenehmes zuwider und Beschwichtigungen alles ist. Und der auf einmal seine ganz persönliche Katastrophe erlebt. Die „so wie bisher“ nicht abzuwenden, nicht abzuwickeln ist.
Die Ensemble-Besetzung ist qualitativ erstklassig. Die Mädchen spielen hervorragend. DEVID STRIESOW als Thomas Engel (schon der Nachname ist Ironie-pur) ist genial. Körpersprachlich, also dessen Inneres brillant stumm-genau ausdrückend, wie in Bewegung. Besitzt eine lieblich-tückische Ausstrahlung, die fasziniert. Wie er die Radikalität dieses Sympathen herauskitzelt, ist atemberaubend. Devid Stiesow ist beängstigend lebensnah. Bislang hatte ich mit dem stets „gewöhnungsbedürftigen“ TV-„Tatort“-Kommissar Jens Stellbrink alias Devid Striesow aus dem Saarland so meine Identifikationswehwechen, hier aber überzeugt und triumphiert er. In brachialer Lächel-Positur. Wie gesagt, einem Claude Chabrol hätte dieser exzellente Psycho-Thriller „Nichts passiert“ bestimmt ebenso gefallen (= 4 ½ PÖNIs).