„NEBEL IM AUGUST“ von Kai Wessel (D 2015; B: Holger Karsten Schmidt; basierend auf dem gleichn. Buch von Robert Domes/2008; K: Hagen Bodanski; M: Martin Todsharow; 126 Minuten; Start D: 29.09.2016); es gibt Filme, die machen einen richtig entsetzt-wütend. Dies ist so ein Film. Er spielt in Süddeutschland, ab Anfang der 1940er Jahre.
Ich lese im Buch „Nebel im August – Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“ von Robert Domes/zweiter Absatz am Anfang: „In der Nazi-Zeit haben auf Hitlers persönlichen Erlass zwischen 1939 und 1945 Ärzte und ihre Mithelfer ungefähr 200.000 psychisch kranke Menschen getötet. Sie haben sie für „lebensunwert“ erklärt, entwürdigt, gequält und ermordet. Die Täter waren nicht einige wenige, sondern die Mehrheit, die Elite der deutschen Psychiater“. Diese widerliche nationalsozialistische Rassenhygiene. Die arische Rasse sollte von „Erbkrankheiten“ „befreit“ werden.
Ernst Lossa (IVO PIETZCKER) wird am 1. November 1929 geboren. In einer Familie von Jenischen. Dem „Fahrenden Volk“. In der Gesellschaft auch abfällig „Zigeuner“, „Hausierer“ genannt. „Du hast eine große Seele“, sagt Mutter Anna zu ihrem Sohn. 1933 stirbt sie. 1936 wird Vater Christian ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Drei Jahre später wieder entlassen. Ernst kommt mit zwei Schwestern in ein Kinderheim in Augsburg-Hochzoll. Dort begeht er Diebstähle. Im Februar 1940 wird er wegen „Unerziehbarkeit“ in das Erziehungsheim nach Markt Indersdorf bei Dachau überstellt. Dort beginnt der Film (1941 wird Vater Christian Lossa wegen seiner „fahrenden Lebensweise“ und seines jenischen Hintergrunds ins Konzentrationslager Flossenbürg eingewiesen, wo er ein Jahr darauf stirbt).
Ernst Lossa, 10. Benimmt sich renitent. Will sich nicht unterkriegen lassen. Gilt als „schwierig“. Ein Gutachter beziehungsweise ein Gutachten wird bestellt. Ergebnis: „Angeborene Stehlsucht“. Ernst sei ein „völlig haltloser Junge“, der in einem normalen Heim „untragbar“ sei. Am 5. Mai 1942 wird Ernst von Indersdorf nach Irsee bei Kaufbeuren gebracht. Dort befindet sich eine psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt. „Ich gehöre nicht hierher, ich bin kein Idiot“, wehrt er sich. „Das sagen sie alle“, kontert ein Wärter. Zaghaft findet Ernst Kontakt mit anderen jungen Insassen. Vor allem die an Epilepsie leidende Nandl (JULE HERMANN) mag er. Als Ernst schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass unter der Klinik-Leitung von Dr. Walter Veithausen (SEBASTIAN KOCH) Insassen systematisch getötet werden, dem Hungertod durch Mangelernährung ausgesetzt sind oder durch den abendlichen „Himbeersaft“ umgebracht werden, beginnt er zu rebellieren. Versucht, behinderten Patienten und Mitgefangenen zu helfen. Nahrung zu besorgen. Als er bemerkt, dass Nandl auf einer Tötungsliste steht, beschließt er, mit ihr zu fliehen.
Aus dem Buch: Am Abend des 8. August 1944, etwa gegen 22 Uhr, bekommt Ernst kurz hintereinander zwei Spritzen mit Morphium-Scopolamin. Zuvor versuchten die Pfleger, ihm mit Gewalt Tabletten einzuflößen. 9. August: Ernst stirbt, ohne noch mal das Bewusstsein erlangt zu haben, an den Folgen der tödlichen Injektion. Als Todeszeitpunkt wird 16 Uhr angegeben.
Lese: Euthanasie stammt aus dem Griechischen und bedeutet, wörtlich übersetzt, „guter Tod“. Die Nazis übernahmen diesen Begriff bemäntelten und begründeten damit ihr Euthanasie-Programm.
Ich war in Auschwitz. Anfang der 1960er Jahre. Das, was ich dort sah und erfuhr, hat mich geprägt. Für immer politisch, menschlich „wachgeschüttelt“. Dort sollte jeder einmal gewesen sein. Ich denke, diesen Film sollten auch viele sehen. SEHR viele. Und für Schule und Schüler sollte er Pflichtprogramm werden.
Damit wir uns nicht missverstehen, dieser Film ist keine trockene Dokumentation oder ein Vergangenheitsbericht über „historische Hässlichkeiten“, ganz im Gegenteil, so widersprüchlich es auch klingen mag: „NEBEL IM AUGUST“ ist ein spannender und dabei sehr nahegehender SPIELFILM. Großartig dank seiner herausragenden Schauspieler, allen voran dem jungen IVO PIETZCKER, bekannt aus dem Berlinale-Wettbewerbsfilm „Jack“ von 2014 („Ein Schauspieler-Debüt, das man so schnell nicht vergisst“/3sat „Kulturzeit“), der Ernst Lossa mit einer packenden, berührenden, grandiosen Intensität spielt.
Die Seele des nun aus der Anonymität der Vergangenheit befreiten Ernst Lossa unaufgeregt wie tief ausdrückt. Das US-Branchenmagazin „Variety“ kürte den heute 14jährigen Anfang dieses Jahres zu einem der „10 Europeans to Watch for 2016“. Aus dem furiosen Ensemble sind Sebastian Koch als Erfüllungshilfe des mörderischen Systems sowie Fritzi Haberlandt und Henriette Confurius als „unterschiedlich motivierte“ Pflegerinnen zu erwähnen.
Der Film „NEBEL IM AUGUST“ ist großartiger, bedeutsamer Hirn- und Gefühls-Stoff (= 4 ½ PÖNIs).