„NACHTZUG“ von Jerzy Kawalerowicz (Co-B +R; Polen 1959; Co-B: Jerzy Lutowski; K: Jan Laskowski; M: Andrzej Trzaskowski; 99 Minuten; Start D: 14.09.1962).
Man kann die gegenwärtige Situation der Filmkunst auf der ganzen Welt annähernd definieren als den Kampf zwischen dem Kino der Tatsachen und den Kino der Konstruktion“, stand im Frühjahr 1959 in der französischen Filmzeitschrift ‘Cahiers du Cinéma‘. Die interessantesten europäischen Regisseure- bewegten sich damals in der Tat lieber im intellektuellen als im realistischen Themenbereich und probierten neue Formen und Stilmittel bei der Überprüfung momentaner Lebensformen aus, Peter Brook schuf in Frankreich das kürzlich erst wiederaufgeführte Drama “Stunden voller Zärtlichkeit“, wo die begüterte Ehefrau Jeanne Moreau in einer gefühlskalten Umgebung den Proletarier Belmondo trifft und beide Mühe haben, sich zu nähern.
Michelangelo Antonioni schilderte in “Die Freundinnen“ von der qualitativen Lebensüberdrüssigkeit einer Gruppe von italienischen Frauen, und selbst in der Bundesrepublik gab es erste Miteinander-Abtastversuche in Will Trempers Existenzialisten-Drama “Die endlose Nacht“. In solch einem Augenblick wurden Fragen auf Fragen über den Zustand der Welt, das Auskommen beider Geschlechter und die Verkommenheit bürgerlicher Moralgesetze aufgeworfen, ohne Antworten zu formulieren, Und viele Arbeiten waren keine reinen Formulierungen unruhig gewordenen Autoren, sondern basieren größtenteils auf literarischem Hintergrund.
“Ich wollte mit diesem Film die Diskussion herausfordern, ich wollte mit ihm die verfälschte Wahrheit über das Schicksal des Menschen entlarven“, äußerte sich denn auch J.K. über die Motive zu seiner Arbeit. Die- Vorgänge während einer Ferienreise im Schlafwagen eines Schnellzuges werden als Bestandsaufnahme von menschlichem Verhalten beschrieben. Wo noch streng zwischen Männer- und Frauenabteil unterschieden wird.
C. Cybuslki, der viel zu früh verstorbene polnische James Dean. Der Arzt, dem gerade bei der Operation ein Mensch gestorben ist und nicht darüber hinwegkommt. Die junge Frau, die vor ihrem Geliebten davonrennt. Die unbefriedigte Ehefrau, die sich auf Abenteuer einlässt, nur um von ihrem ehrgeizigen und nur auf seinem Beruf fixierten Ehemann (einem Rechtsanwalt) wegzukommen. Die gelangweilte Blondine an der Seite ihres älteren Ehemanns, eines kleinen Juristen, der von größeren Aufgaben träumt. Der Klatsch blüht. Man setzt sich in Pose, um sich in vorteilhaftestes Licht zu setzen. Wenigstens für eine Nacht ist man “wer“, darf man aus seiner Anonymität so tun als ob.
Priester. Sportler. Arzt. Blondine. Ehefrau, Liebhaber. Debattierclub.
Menschliche Schicksale in einer Nacht. Ernsthaftigkeit ist angesagt. “Ich würde auch lieber lachen. Leider habe ich dazu wenig Grund“, sagt der Arzt. “Ich habe auch keinen Grund“, antwortet die Abteil-Bekannte. “Ich lache nur, um jemanden aufzuheitern“. Dann bringt eine Mördersuche plötzlich Bewegung in die kleine, abgeschlossene Gemeinde/Kreis. Plötzlich fallen Masken. Neugier und Sensationsgier kommen hinter den Fassaden hervor. Und der Zufall will es, dass man sogar die Möglichkeit bekommt, “einen richtigen Mörder“ jagen zu können. Da will jeder dabei sein. Zwischen Mensch und Tier gibt es für einen Augenblick keinen Unterschied. EXISTENZIALISTEN-Poem als geschmäcklerisches Zeitbild einer heute exotischen Epoche. Aus einem Land, einer Gegend, für die solchermaßen ein provokatives, offenes, gesellschaftliches Bild keine Selbstverständlichkeit war. Schlusssatz als Zitat des Regisseurs.
MIKROKOSMOS einer kleinen Gesellschaft von 1959. „Ich habe jetzt niemanden und trotzdem bin ich jetzt froh“, stellt die junge Frau fest. Und das ist dann wie ein realistischer Ausblick auf die 80iger (= 4 PÖNIs).