MR 73 – BIS DASS DER TOD DICH ERLÖST

Es gibt Filme, die hauen einen emotional richtig um. Als solch ein „brillanter Umhauer“ zeigt sich ein französischer Ausnahme-Thriller, der in die legendären Kultfußstapfen eines JEAN-PIERRE MELVILLE tritt. DER hat bekanntlich zwischen 1962 („Der Teufel mit der weißen Weste“) und 1972 („Der Chef“) französische Thriller-Kultwerke wie „Der eiskalte Engel“ (mit Alain Delon) und „Vier im roten Kreis“ (mit Yves Montand + André Bourvil) geschaffen. Und Melville ist ein gutes Stichwort, denn der heute 51jährige französische Schauspieler, Regisseur und Drehbuch-Autor OLIVIER MARCHAL bezieht sich in seiner aktuellen Polizeifilm-Trilogie vor allem auf Melville, aber auch auf Genre-Regisseure wie Sergio Leone („Es war einmal in Amerika“, gedreht zwischen 1982-84) und Sean Penn („Das Versprechen“ von 2001) oder auf gute Typen wie Jack Nicholson (als eben „ganz anderer“ Polizei-Detektiv in Sean´s „Das Versprechen“) oder auf Mickey Rourke (als versoffener Bukowski-Poet in „Barfly“/1987) oder eben auf die „gesamte“ klassische, eigenwillige Melville-„Mannschaft“-einst, von Belmondo bis Delon.
Wir befinden uns quasi in einer riesigen, gigantischen Tragödie. Mit klassischen Ausmaßen. Sozusagen mit „griechischen Akzenten“. Es geht also um existenzielle Fragen, Motive, Gedanken. Seelen-Bewegungen. Inmitten einer wüsten modernen Handlung.

Aber der Reihe nach:
OLIVIER MARCHAL hat ein bewegtes Leben hinter sich. Der Sohn eines Konditors und Hobby-Kriminalschriftstellers wuchs im Jesuiten-Internat auf. Als Jugendlicher beeindruckten ihn die Filme von Sidney Lumet („Serpico“/1973, mit Al Pacino), Jean-Pierre Melville, Henri Verneuil („Der Clan der Sizilianer“/1969, mit Delon/Gabin/Ventura) und Georges Lautner („Der Bulle“, 1967/mit Jean Gabin). Seine Neugier auf die Polizeiarbeit war „geweckt“; im Alter von 20 Jahren wurde er Polizist und startete bis zum Inspektor durch. Diese Zeit dort prägte ihn sehr. Denn was er dort an Gemeinheiten, Widerwärtigkeiten, Schurkereien erlebte, ließ ihn nicht mehr los. Das ganze Programm an menschlichen Katastrophen traumatisierte ihn. Während dieser Arbeit lernte Marchal Kommissar Simon Michael kennen, der zu jener Zeit, in den 80ern, am Drehbuch für den späteren Kinohit „Die Bestechlichen“ von Claude Zidi (1984,mit Philippe Noiret) schrieb. In seiner Freizeit pflegte Marchal weiter seine Liebe zum Theater, besuchte Kurse am Pariser Konservatorium. Um schließlich seine Theater-Leidenschaft besser mit seinem zeitintensiven Beruf vereinbaren zu können, meldete er sich 1985 freiwillig für den polizeilichen Nachtdienst.

Die darauffolgenden 7 Dienstjahre prägten ihn nachhaltig. 1992 quittierte er – von seinem „Mentor“ Simon Michael ermuntert – den Dienst. Arbeitete fortan als Schauspieler („Der Panther II – Eiskalt wie Feuer“/1988; „Kein Sterbenswort“/2007), schrieb Drehbücher, schuf 2002 den Kurzfilm „Un bon flic“ und begann 2002 als Regisseur und Drehbuch-Autor mit seiner Polizeifilm-Trilogie: „Gangsters“ (mit Richard Anconina) hatte bei uns am 8.4.2003 Video- bzw. DVD-Premiere; „36 – Tödliche Rivalen“ von 2004 (mit Daniel Auteuil + Gerard Depardieu) folgte hierzulande am 26.4.2006 auf DVD. Jetzt also der Abschluß dieser unabhängigen, unzusammenhängenden Meisterwerk-Trilogie.

Titel:
MR 73“ von Olivier Marchal (B+R; K: Denis Rouden; M: Bruno Coulais; Frankreich 2007; 125 Minuten; DVD-Veröffentlichung: 25.02.2010).

Die MR 73 ist eine Waffe, ein Revolver, und spielt LETZTENDLICH eine wesentliche Rolle. Zunächst aber blicken wir auf einen ziemlich „zerstörten“ Menschen. Der mit glasigen Augen und einem völlig zerfurchten Gesicht in einem Bus in Marseille sitzt und völlig „daneben“ scheint. Während wir diesen Typen anstarren und fühlen, daß DER gleich irgendwie „ausrasten“ wird, hören wir im Hintergrund einen legendären LEONARD-COHEN-Song: „Avalanche“ von 1970. Und in der Tat, Kommissar Schneidér löst eine Lawine aus, in dem er den Bus kapert, um schneller nach Hause zu kommen. Mit 3,4 Promille im Blut. Was im Kollegenkreis überhaupt nicht gut ankommt. Aber da Alkoholiker Schneidér, wenn er denn mal kurz nüchtern ist, zu den Spitzenschnüfflern im Hause zählt, findet man ein „Arrangement“. Zumal es gerade gilt, einen bestialischen Serienkiller zu kriegen. Der seine Opfer geradezu „bizarr“ hinrichtet. Was Schneidér an einen seiner schlimmsten Fälle erinnert: Charles Subra (PHILIPPE NOHAN) war ein grausamer Killer, den er schließlich überführte. Und der heute im „lebenslangen Gefängnis“ zu Reue und Gott gefunden hat, so dass er möglicherweise demnächst, nach 25 Knast-Jahren, zur Begnadigung ansteht. Was jetzt die damals einzig überlebende Tochter einer Opfer-Familie, Justin (OLIVIA BONAMY), erneut in Panik versetzt. Was wiederum Schneidér auf den Plan ruft. DER nach dem Tod seiner Tochter und der Verkrüppelung seiner Frau an der „Krankheit zum Tode“ leitet und im Grunde nur darauf wartet, endlich „erlöst“ zu werden. Darum säuft er sich die Seele aus dem Leib.

Ein ganz düstere Szenerie. Eine ganz schmutzige „Django/Keoma/Bronson/Dirty Harry“-Szenerie. Kalt und unbarmherzig. Kein Pardon möglich oder vorhanden. Diese Welt hier ist dermaßen grausam, daß es einen nur und dauerhaft fröstelt. Soziale Reaktionen oder Seelen gibt es nicht. „Sie stinken nach Pisse und Schnaps“, wird Schneidér erklärt. „Der Kerl ist eine Zeitbombe, irgendwann fliegt er uns um die Ohren“, lautet das Resümee über DEN von der „Arschlochbrigade“. Dabei bekriegen sie sich auch zünftig untereinander, dieser genauso brutale, widerwärtige, korrupte Haufen von Beamten. Der sich im Grunde nur über die Polizeimarke von denen unterscheidet, die sie verfolgen. „Nur bei der Geburt bis du unschuldig. Danach sind alle schuldig, ausnahmslos“, hieß es einst in „Vier im roten Kreis“ bei Melville. Genauso hier. Verludert und verloddert, Nichts und Niemand ist „rein“, jeder trägt „Schuld“ mit sich herum. Mal wenig, mal viel. Die menschliche Entfremdung ist total.

Schneidér ist wie ein umherirrender Suff-Ritter, der vergeblich bemüht ist, „ein wenig Anstand“ in diese verkommene Welt zu setzen, zu bringen, letztlich aber resigniert und alles selbst „regelt“, abschließt. Ein Polizei-Thriller als menschliches Existenz-Drama. Dunkle, blaustichige, grau-braune bedrohliche Bilder, die nach Enge, Dreck, Hölle „riechen“ (exzellente Kamera: DENIS ROUDEN). Spannungsatmosphäre pur, auch musikalisch über die Klänge von BRUNO COULAIS („Die Kinder des Monsieur Mathieu“). Und mit einem darstellerischen VULKAN in der Hauptrolle: Der gerade 60 Jahre jung gewordene DANIEL AUTEUIL kriecht förmlich in diesen Schneidér rein, saugt sich mit dieser geschundenen, kaputten Figur auf und ab. Dabei sein Motto: „Gott ist ein Drecksack; irgendwann bring´ich ihn um“. Eine ungewöhnlich intensive, außerordentlich faszinierende Interpretation eines heruntergekommenen, verrückten Moralisten. Der durch eine wahre Alptraumwelt tapert, als Polizist, „der die Welt durch die Klo-Brille wahrnimmt“ (Olivier Marchal im „Making of“-Bonusmaterial). Das Ensemble, zu dem OLIVIA BONAMY („So ist Paris“) und auch CATHERINE MARCHAL („36 – Tödliche Rivalen“) zählen, überzeugt ebenso enorm wie intensiv. „MR 73“ ist einer der besten Flic-/Cop-Thriller der letzten Jahre und zählt zu den derzeit unbedingten Muß-DVD-Filmen überhaupt. So was von emotional-gedanklich-psychologisch Unter-die-Haut-Gehend gab es spannungsmäßig schon lange nicht mehr im Film. Im Vorspann heißt es dazu lapidar: Basierend auf wahren Begebenheiten….. (= 5 PÖNIs).

Anbieter: „EuroVideo“/München.

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