PÖNIs: (4,5/5)
Dass Filme bei ihrem Kinostart für „wertlos“ gehalten werden, um dann Jahre später als zeitgeschichtlich bedeutsame cineastische Kunstwerke entdeckt zu werden, ist keine Seltenheit in der langen Filmgeschichte. Neuestes Beispiel:
„DER MANN MIT DER STAHLKRALLE“ von John Flynn (USA 1977; B: Paul Schrader, Heywood Gould; K: Jordan Cronenweth; M: Barry De Vorzon; 100 Minuten; BRD-Kino-Premiere: 30.05.1980; DVD-Veröffentlichung in ungeschnittener Fassung: 28.09.2012).
„ROLLING THUNDER“ heißt der Streifen im Original, der damals hierzulande auf 89 Minuten gekürzt und vom Kritiker des katholischen „Film-Dienstes“ geharnischt abgewatscht wurde: „Ein blutrünstiger Film, der das Vietnam-Trauma für eine spektakuläre Selbstjustizgeschichte ausschlachtet“. Jahre später aber kamen „ganz andere“ Bewertungen heraus bzw. ins Gespräch: für den namhaften amerikanischen Filmjournalisten GENE SISKEL (*1946 – †1999) war „Rolling Thunder“ die Nr. 10 unter seiner Zehnerfilmbestenliste von 1977. Und ein QUENTIN TARANTINO („Pulp Fiction“) outete sich als Fan dieses Werks: „Viele Filme enttäuschen einen, aber dieser ist das Arschtret-Nirwana“. Zudem nannte er seinen von 1995 bis 1998 existierenden Filmvertrieb (Verleih für nationale und ausländische Kultfilme) bewusst „Rolling Thunder Pictures“.
Regisseur JOHN FLYNN (*14.03.1932 – †04.04.2007) zählt nicht zu den „Auffälligen“ des US-Kinos. Neben diesem späte Beachtung und Würdigung findenden Werk schuf er eher „unwichtige“ Genre-Produkte wie „Defiance – Die Schläger von Brooklyn“ (1980, mit Jan-Michael Vincent) oder „Lock Up – Überleben ist alles“ (1989, mit Sylvester Stallone). Die Drehbuch-Autoren dagegen werden heute noch bewundert: HEYWOOD GOULD, am 19. Dezember 1942 in New York geboren, hat sich als Schriftsteller, Journalist und Drehbuch-Autor für Filme wie „The Boys from Brazil“ (1978, von Franklin J. Schaffner; mit Gregory Peck, Laurence Olivier und James Mason), „Streets of Gold“ (1986, von Joe Roth; mit Klaus Maria Brandauer, Wesley Snipes) oder „Cocktail“ (1988, von Roger Donaldson; mit Tom Cruise, Bryan Brown) bekannt gemacht. PAUL SCHRADER, Jahrgang 1946, aus Michigan, gilt als ein hochgeschätzter Cineast. Sowohl in seiner Funktion als Drehbuch-Autor (für „Taxi Driver“ und „Wie ein wilder Stier“, beide von Martin Scorsese) wie auch als Regisseur („Blue Collar“/1978; „Ein Mann für gewisse Stunden“/1980; „Light Sleeper“/1992; zuletzt „Ein Leben für ein Leben – Adam Resurrected“/2008). Von Paul Schrader ist allerdings überliefert, dass er sich damals von dem fertigen „Rolling Thunder“-Film distanzierte, weil er ohne sein Zutun umgeschrieben wurde und er das fertige Produkt als „faschistisch“ bezeichnete.
Dabei zeigt sich „Der Mann mit der Stahlkralle“ – heute – eher „vorsichtig“. Gibt sich lange Zeit moralisch-unmoralisch eher „bedenklich“, „zögernd“, „zweifelnd“, bevor es in die (Gewalt-)Vollen geht. Als „Vietnamveteran nimmt Rache-Film“ („Hostel“-Regisseur Eli Roth im Bonus-Interview). Aber der Reihe nach. San Antonio, Texas. 1973. Nach 7 Jahren Krieg und Folter-Gefangenschaft kehrt Major Charles Rane (WILLIAM DEVANE) aus Vietnam zurück. Gemeinsam mit seinem Freund Sergeant First Class Johnny Vohden (der junge „Men in Black“ TOMMY LEE JONES). Wird mit – buchstäblich – Pauken und Trompeten am Flughafen empfangen. Gelobpreist. Mit einem fabrikneuen roten Cadillac-Cabrio beschenkt. Sowie mit 2.555 Silberdollarstücken, eins für jeden Tag Gefangenschaft. Halleluja, ER ist wieder zurück. Dass Charles Rane längst nicht mehr derselbe ist, derselben sein kann, der er vor Kriegsantritt war, ist offensichtlich vielen nicht klar. Oder wichtig. Die Hauptsache – mal wieder die schmucke Heldenverehrung. Dabei ist Charles Rane kein Held. Und will es auch gar nicht sein. Ganz im Gegenteil.
Der Kerl ist natürlich traumatisiert. Wenngleich er DAS tunlichst „für sich behält“. Öffentlich zu verstecken vermag. Denn die Erinnerungen kommen immer wieder schmerzhaft hoch. Seine Ehefrau hat sich längst von ihm verabschiedet, weil mit seiner Rückkehr nicht mehr zu rechnen war, und sein Sohn Mark kann sich an seinen Dad überhaupt nicht mehr erinnern. Wie auch. Das alte Leben kann Rane nicht mehr aufnehmen, ein neues ist erst noch „in Arbeit“. In Gedanken. Bedarf viel Zeit. Und Ruhe. Doch DIE bekommt Charles Rane nicht. Ein brutaler häuslicher Überfall eskaliert. Gangster wollen an die Silber-Dollar. Als Rane nicht „kooperiert“, töten sie Ehefrau und Sohn und verstümmeln seine rechte Hand. Der Titel-Mann entsteht. Nach der Krankenhaus-Zeit. Wo der Plan gereift ist: Gemeinsam mit Kumpel Johnny wird „Der Mann mit der Stahlkralle“ den Krieg hier fortführen. Ganz privat. Und böse. Mit im Schlepptau – sein blondes Kneipen-„Groupie“ Linda (LINDA HAYNES/im Bonusmaterial mit heutigem 11-minütigem Interview über die damaligen Dreharbeiten). DIE ziemlich angepisst ist: „Warum muss ausgerechnet ich immer an irre Männer geraten?“; „Die sind eben als einzige übriggeblieben“, kontert Charles lakonisch. Zieht seine Uniform an und beginnt mit DEM, was er nun bestens vermag: sich ins private Kriegsgetümmel zu begeben. Um die elenden weißen „einheimischen Vietnamesen“ auszulöschen. Was soll er denn sonst noch tun??? Wenn sie ihn dermaßen dreckig „attackieren“?
Das amerikanische Trauma: Vietnam war 1977 gerade erst mal zwei Jahre vorbei. Mit diesem Zeitfenster „im Nacken“ entstand dieser ziemlich statische, dialoglastige und erst in der letzten Viertelstunde „hantierende“ Film. Weitgehend unspektakulär und nur „Promille“ reißerisch. Dafür gedanklich wie atmosphärisch faszinierend. Motto: Die Hölle geht weiter. Zuhause. Nun also auch auf amerikanischem Boden beziehungsweise dann auch auf nachbarlichem mexikanischem Terrain. Nicht als „Ein Mann sieht rot“-pure Selbstjustizverherrlichung, sondern als konsequente Fortführung des Ami-Krieges im Kopf. Bei den verunsicherten, verunstalteten Beteiligten. Latenten Kriegern. Die den gesellschaftlichen Human-Regeln zwangsläufig abschwören müssen. Motto: Gewalt als einziges Miteinander-, als Überlebensargument. Kennen. Wissen. Benutzen. Wenn es denn sein muss. Und hervorragend ausgebildet wurde ja der Major. Ein bisschen Training und „Mann“ kommt wieder in (Gefechts-)Form. Die Waffen dazu liegen bekanntlich überall frei im Lande herum. Zum Sonderangebot.
Ein bitterer, zynischer Stoff als lakonischer Balladen-Western. In der Neu-Zeit. Der US-Siebziger Jahre. Wirkend wie ein „bereitstehender“ wütender Faustschlag. Heute als filmischer Bestseller zu entdecken. WILLIAM DEVANE (mit der deutschen Kevin Costner-Stimme von Frank Glaubrecht), kürzlich, am 5. September 2012, 75 Jahre geworden, unvergessen als smarter Bösewicht im 1976er Hitchcock-Drama „Familiengrab“ und zuletzt in einem Nebenpart bei „The Dark Knight Rises“, mimt den Vietnam-Veteranen mit bedächtigem Temperament. Lange kontrolliert, dann als wütend zurückbeißender Blut-Wolf. Tommy Lee Jones als desillusionierter Rückkehrer Cliff gibt den typischen Sheriff-Vertrauten. Und Kumpel. Durch dick und dünn. Am Schluss humpeln sie, angeschossen, wie einst John Wayne + Dean Martin in „Rio Bravo“, abgekämpft über die Ziellinie. Zurück ins US-Nirwana.
„Rolling Thunder“ – oder: Was für eine interessante politische Genre-Klassiker-DVD-Bescherung. Marke: Filme reifen bisweilen großartig. Siehe. Unbedingt: „Der Mann mit der Stahlkralle“ (= 4 1/2 PÖNIs).
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