„DAS LABYRINTH DER WÖRTER“ von Jean Becker (Co-B+R; Fr 2010; 82 Minuten; Start D: 06.01.2011); der heute 72jährige französische Drehbuch-Autor und Regisseur hat nicht so viele Filme wie sein prominenter Vater Jacques Becker („Wenn es Nacht wird in Paris“; „Das Loch“ ) geschaffen, wurde aber auch bei uns mit Werken wie „Sie nannten ihn Rocca“(1961/ mit Jean-Paul Belmondo); „Ein mörderischer Sommer“ (1983; mit Isabelle Adjani), „Elisa“(1995; mit Gerard Depardieu + Vanessa Paradis) bekannt. Zuletzt war er mit den Filmen „Dialog mit meinem Gärtner“ (2007; mit Daniel Auteuil) und „Tage oder Stunden“ (2009; mit Albert Dupontel) auch hierzulande in den Kinos. Für „La téte en friche“ (Originaltitel; übersetzt etwa: „Kopf im Leerlauf“ bzw. „Brachliegender Kopf“)) adaptierte Becker den gleichnamigen Roman der französischen Schriftstellerin Marie-Sabine Roger aus dem Jahre 2008, der bei uns im Februar 2010 unter dem jetzigen deutschen Filmtitel veröffentlicht wurde.
Wir befinden uns irgendwo in einer kleinen Ortschaft in der französischen Provinz. Dort lebt Germain als Gelegenheitsarbeiter und Analphabet. Der massige Typ in den Fünfzigern wird von seiner Mutter, die gleich nebenan, am gemeinsamen Garten, wohnt, tyrannisiert, verachtet. Im Kollegenkreis gilt Germain halt „als nicht besonders helle“; sozusagen als/ein belächelter naiver Idiot. Germain stromert „so“ durchs Leben, bis sich eines Tages auf einer Parkbank die über 90jährige Margueritte (tatsächlich, mit zwei t) zu ihm setzt. Beide mögen Tauben. Doch dem unbeholfenen Germain bereitet es Mühe, die 19 Tiere vor ihnen, denen er allesamt einen Namen gegeben hat, zu zählen. Ein kurioses Paar, dieser hünenhafte Kerl und die grazile Dame; er in Latzhose und im Karohemd, sie mit rosafarbener Strickjacke. Der tumbe Grobklotz und die kultivierte Madame. Die sich hier fortan öfter begegnen, treffen. Denn dies ist IHR Platz, um zu lesen. Um die Welt der Literatur einzuatmen. Irgendwann beginnt sie ihm vorzulesen. Aus Albert Camus „Die Pest“. Germain findet Gefallen daran. Zeigt sich überraschenderweise außerordentlich konzentriert. Interessiert. Bewegt. Wird bei ihren nun ständigen nachmittäglichen Begegnungen mehr und mehr zu einem (SEHR) aufmerksamen Zuhörer. Findet und empfindet Zugang zur Literatur, Bildung und Sprache. Zwei völlig gegensätzliche Menschen werden Seelenverwandte. Die Kollegen von Germain sind erst erstaunt und dann „entsetzt“ über ihren vermeintlichen Dummkopf-Kollegen, der sich mit Wissen füllt. Und dies nun auch „ausdrückt“. Formuliert. Mit „komplizierten“ Wörtern und ungeahntem Wissen. Und als Margueritte schließlich dem Alter Augen-Tribut zollen muss, wird Germain zu ihrem „Vorleser“.
Was für eine wunderbare Lektion; was für ein herrlicher Film; was für eine Hymne auf die Menschlichkeit und die Literatur!!! Mit diesem einfachen wie richtigen Verweis – Du kannst ES jeden Tag wollen, machen, haben, wenn du es nur willst. Du kannst dich an/in jedem Moment deines Lebens ändern. Verändern. Dich mit Dingen befassen, die du bisher nicht beachtet, geschweige denn bewundert hast. Worauf immer du neue geistige Lust verspürst, pack es doch an. Solange dafür noch (Lebens-)Zeit ist. Motto: KREATIVITÄT ALS CHANCE. Mit einem dermaßen SCHÖNEN optimistischen Gefühl und einer berauschend-inspirierenden Zuversicht packt dieser phantastische kleine Film, unterhält er prächtig. Weil er seine „simplen“ Ideen nicht nur über eine behutsame Inszenierung, mit seinen leisen Zwischentönen und tragikomischen Charakteren unaufdringlich vermittelt, sondern natürlich vor allem über seine beiden ausdrucksstarken, großartigen, „(zusammen-)passenden“ brillanten Hauptdarsteller.
GERARD DEPARDIEU ist Germain, dieses gutmütige Schwergewicht, mit jeder Pore und Bewegung. Mit jedem Blick und jeder Geste. Grandios. Ohne falsche (Be-)Rührung. Als überzeugende Bauch-Figur. Wobei: Depardieu scheint sich ja derzeit in filmischen Unterschichten-Figuren wohl zu fühlen, siehe neulich in/als „Mammuth“ oder kürzlich als etwas zurückgebliebener Konrad in der Martin-Suter-Roman-Verfilmung von „Small World“. Nicht minder formidabel ist aber auch seine Partnerin, die 95jährige Grand Dame des französischen Films, die berührende GISÉLE CASADESUS („Die Eleganz der Madame Michel“). Als zarte Alters-Pflanze mit „feinen Manieren und ebensolcher Sprache“ versprüht sie viel Esprit-Frische in einer Art heiter-melancholischer Alters-Jugendlichkeit. Eine ungemein charmante, kluge, liebenswerte Begleiterin.
Dieser französische Film macht glücklich. In Kopf und Bauch, im Herz und in der Seele.
Nach dem Film bleiben die vielen glücklichen Erinnerungen sowie der sofortige Griff zum Buch. Zum Weiterhin-Gut-Fühlen (= 4 ½ PÖNIs).