„DIE KÜMMELTÜRKIN GEHT“ von Jeanine Meerapfel (B+R; D 1984; K: Johann Feindt, M: Jakob Lichtmann; 88 Minuten; Start D: 1985) Zuallererst gab‘s den Dokumentarfilm. Dokumente alltäglicher Begebenheiten wurden vor den Kameras ausgebreitet. Aber schon bald war der Reiz des Neuen verbraucht, und dramatische Erzählungen, auch Spielfilm genannt, begannen nun ihren Siegeszug durchs Zelluloid. Daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Der Dokumentarfilm hat seinen Platz in der Filmgeschichte in der hinteren Reihe eingenommen, existiert quasi “nebenbei“. Geduldet, aber nicht geliebt. Akzeptiert, aber wenig respektiert. Der Spielfilm ist das A und O von allem, was mit Film zu tun hat. Warum ich das erzähle? Weil Jeanine Meerapfel, die in Buenos Aires geborene und seit 1964 in der Bundesrepublik lebende und arbeitende Journalistin und diplomierte Filmemacherin (Abschluss in Ulm, am Institut für Filmgestaltung bei Kluge), mit ihrer dritten abendfüllenden Arbeit , nach “Malou“, Spielfilm 1980/81, und “Im Land meiner Eltern“, Dokumentarfilm 1981, ein filmisches Wagnis eingegangen ist. Einerseits ist ihr Film vom Aufbau und Stil her ein typisches Dokument, andererseits besitzt er alle Kraft, Professionalität und Spannung eines Spielfilms. Ein Dokuspielfilm also, eine neue Schublade muss aufgemacht werden. Jeanine Meerapfel stellt eine Freundin in den Mittelpunkt des Geschehens, eine heute 38-jährige Türkin mit Namen Melek Tez. Die ist vor vierzehn Jahren eher zufällig in unser Land gekommen, hat sich in den verschiedensten Berufen im wahrsten Sinne durchgeschlagen, hat ohne Murren ganz unten angefangen und gewohnt, hat dabei auf die Gastlichkeit und Freundlichkeit gehofft, die bei ihr zu Hause Fremden gegenüber üblich ist. Irgendwann lernte man sich kennen, freundete sich an, traf sich regelmäßig. Als Melek Tez eines Tages ihren Abschied und ihre Rückkehr ankündigte, war die Freundin verwundert und bestürzt. Sie wollte die Gründe erfahren, hakte und fragte nach. Und das war dann zugleich auch der Beginn für diesen Film, der das Porträt einer unüblichen Frau ist, einer Überlebenskünstlerin, die den Betrachter zwingt, die Vorstellungen, die man von einer “typischen“ Türkin hat, neu zu überdenken. Denn Melek Tez lässt sich nicht so einfach in ein (“Kopftuch“-)Klischee stecken, lässt sich nicht so ohne weiteres etikettieren, im Gegenteil. Wir haben es hier mit einer selbstbewussten, lauten, mit einer gehörigen “Berliner“ Kodder schnauze ausgestatteten Frau zu tun, die immer gekämpft hat. Mit Behörden, Wohnungsvermietern, Nachbarn, Menschen auf den Straßen, sogar mit Landsleuten. Eine Frau mit eigenem Willen und Wollen, der nun aber die Puste ausgegangen ist, die zermürbt ist vom Kälte-Klima und den ewigen Anfeindungen, von dem dauernden Auf-der-Lauer-Sein-Müssen, von Auseinandersetzungen und Anfeindungen. „Ich hoffe, ich komme auch irgendwann einmal zum Leben“, zieht sie trübe Bilanz und macht sich Hoffnungen auf das neue Leben in der Türkei. “Dabei dachte ich, dass Melek für diese Gesellschaft wie gemacht ist, denn sie lässt sich nicht unterkriegen, sie fällt immer wieder auf die Füße. Auch wenn sie hier Schlimmes erlebt hat, sie war so kräftig, dass sie das alles überstanden hat und noch immer Lust und Spaß am Leben hatte“, notierte Jeanine Meerapfel zu Anfang ihres Projekts. Das eine Mischung aus dokumentarischen und inszenierten Stationen aus der Berliner Zeit Meleks, aus Assoziationen und Bildern über zweimal “Heimat“ geworden ist. Und zugleich ein äußerst geglückter Versuch, die unsichtbaren Verletzungen zu beschreiben, die eine „Kümmeltürkin“, wie sie sich oft selbst genannt hat, um sich zu schützen und zu verteidigen, nach 14 Jahren in der Bundesrepublik stark gezeichnet haben. Dabei entstand Gott sei Dank kein noch so kluges, gewitztes Soziogramm, kein mitleidheischendes Polit-Pamphlet, kein “Fahnen“-Film von wenigen für wenige. Ganz im Gegenteil. Wie diese Melek Tez hier auftritt, wie sie ihre Ansichten vorträgt, wie sie emotional die Szenen eines aufreibenden Daseins noch einmal nachvollzieht, das ist ebenso mitteilsam wie unterhaltsam, ebenso klug wie nachdenklich stimmend. Jeanine Meerapfel dazu: “Mich interessiert die Anteilnahme des Zuschauers. Um die zu mobilisieren, versuche ich, die starken dokumentarischen Momente zu erhalten und sie zu unterstreichen durch die Nachinszenierung von Situationen, an die Melek sich ganz prägnant erinnert. Ich folge sozusagen Meleks Emotion, dokumentarisch da, wo es geht, mit gespielten Szenen da, wo es sich um Vergangenheit handelt. Das gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in die Geschichte hineinzufühlen, aber auf der anderen Seite eine Distanz zu dieser Geschichte zu bekommen. Durch Realität und durch Darstellung von Realität kann man beides erreichen, emotionale Teilhabe wie auch kritische Distanz“. Für mich war dies einer der besten diesjährigen Berlinale-Filme (er lief auf dem Forum), weil er wirklich mehr erreicht als so manche kluge Worte, Reportagen oder Diskussionen. Sicherlich auch, weil er handwerklich professionell ausgeführt wurde und eben diese faszinierende “Hauptdarstellerin“ besitzt, die man eine zeitlang nicht vergessen wird. Und der es vor allem zu verdanken ist, dass man an ein einen längst vergessenen Polit-Spruch von gestern wieder nachhaltig erinnert wird: Wir haben Menschen gewollt und Türken sind gekommen (= 4 PÖNIs). |
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