„GESTÄNDNISSE“ von Tetsuya Nakashima (B+R; Japan 2010; 106 Minuten; Original mit deutschen Untertiteln; Start D: 28.07.2011); ein japanischer Film ist KINOFILM der Woche. Des Monats. Geht unter die Haut. Wirkt lange nach. Und weiter. Wird wohl unvergessen bleiben. Und in den Analen der Filmgeschichte fortan eine gewichtige Qualitätsrolle mitspielen. Was für ein unglaubliches verstörendes Meisterwerk! Als packender Thriller. Mit sehr viel Psycho-Geschmack. Mit also vor allem bester Kopf-Spannung. Und „ganz deutlich“ unangestrengt in dieser originalen Stimmungsversion, mit gut lesbaren, verständlichen deutschen Untertiteln, aufzunehmen. Aufzusaugen.
Was für ein sonderbarer, außergewöhnlicher, begeisternder Genre-NEU-Film. Der zuhause ein riesiger Kinoerfolg und gleich 4 Woche auf Platz 1 der einheimischen Kinocharts war, als japanischer Beitrag für den Auslands-„Oscar“ an den Start ging, auf zahlreichen internationalen Festivals (wie Toronto, New York und München) für Aufsehen sorgte und dessen – britische – Kritikzeilen schon neugierig machen: „Es ist schwierig, diesen Film zu mögen, und unmöglich, ihn nicht widerwillig zu bewundern“ („The Guardian“). „Es ist schwer, sich an einen ähnlich kalten, so wütend menschenhassenden Film zu erinnern, in dem fast jeder Charakter ein boshafter Tyrann oder ein irregeführtes, verdientes Opfer ist“ („Time Out“).
„Geständnisse“ ist ein Film mit enormer Sog-Wirkung. Geschrieben und inszeniert vom 51jährigen TETSUYA NAKASHIMA. Nach dem gleichnamigen preisgekrönten Mystery-Roman (Originaltitel: „Kokuhako“) von Kanae Minato, von dem in Japan 700.000 Exemplare verkauft wurden. Der Autoren-Regisseur wurde auch in Europa durch seine Filme „Kamikaze Girls“ (2004) und „Memories of Matsuko“ (2006) bekannt, die sich vor allem durch bonbonhafte Bilder und skurrile Plots auszeichneten. In „Geständnisse“ sorgt er für eine erste Stunde KINO, die „so“ suggestiv und dabei „einfach“ wohl noch nie zu sehen, zu hören, zu erleben war. Unterlegt mit „geheimnisvollen“, melancholischen, beunruhigend-ruhigen Klängen (von Toyohiko Kanahashi). Die entfernt an diese einst ebenso unbarmherzigen, (be-)drückenden, aber lauter hämmernden Kopf-Klänge eines John Carpenter in „Assault – Anschlag bei Nacht“ (von 1976) erinnern. (Später wird dann der ebenfalls überragende, stimmungsgemäße, gewaltige Soundtrack von Independent-Gruppen wie „Boris“ und „The XX“ hypnotisch ergänzt).
Wir befinden uns in einer japanischen 7. Schulklasse. Mit Schülern beiderlei Geschlechts, „gerade so“ unter 14 Jahren. Es ist der letzte Tag vor den Frühlingsferien. Ihre (tägliche) Schulmilch haben die Kinder getrunken. Unruhe im Raum. Die Schüler, wenn sie denn überhaupt „etwas machen“ (und nicht dösen, pennen, vor sich hinstarren), sind mit sich beschäftigt. Mit ihren SMS-Handy-Meldungen, mit Gesprächen, Frotzeleien, kleinen oder „mittleren“ Aggressionen untereinander. Eine chaotische Stimmung. Kaum jemand hört der jungen Lehrerin vorne zu. Diese, Frau Moriguchi, im langen dunklen hochaufgeschlossenen Kleid, erzählt dennoch. Ruhig. Gleichbleibend ruhig. Sanft. Fast spirituell. Fortwährend. Dies sei nun ihr letzter Arbeitstag. Sie hört heute auf, als Lehrerin zu arbeiten. Was bei den aufmerksameren Schülern kurze Begeisterungsstürme a la „geschafft!“ auslöst. Moriguchi bleibt ruhig. Erzählt weiter. Unaufhörlich. Nun zwischen den Reihen wandernd oder am Fenster stehend. Dass sie, die Kids, doch nach dem Gesetz als völlig unschuldig gelten. Niemand könne ihnen etwas anhaben. Wie bei einem „populären“ Eltern-Attentat kürzlich, über das die Medien groß berichteten. Egal, was ihr auch anrichtet: §41 des Strafgesetzes stellt Kinder unter 14 Jahren straffrei. Keinerlei Verantwortung gebe es bei ihnen und schon gar kein Gefängnisstrafe. Bei keinem noch so schlimmen Vergehen. Hey, was will die Alte? tönt es brummelnd drumherum.
Nun, sie will mitteilen, dass ihre kleine Tochter kürzlich gestorben ist. Und – es war kein Unfall, wie amtlicherseits festgestellt wurde, sondern es war bewusstes Töten. So langsam kehrt „Neugier“ in die unruhige Gemeinschaft. Hey, WAS erzählt DIE da? Frau Moriguchi fährt scheinbar unbeeindruckt fort: Es gibt zwei Schuldige. Täter. In diesem Raum. In dieser Klasse. Namen will sie nicht nennen. Nennt sie nicht. Sondern beziffert diese „Töter“ mit A und B: „A hat gute Noten und wirkt nach außen wie ein völlig problemloser Schüler“. Hat eine „Hinrichtungsmaschine“ für Hunde und Katzen erfunden, die als „Anti-Taschendieb-Portemonnaie“ sogar beim Nationalen Wettbewerb mit dem „Großen Preis für Mittelschüler“ ausgezeichnet wurde. Was für ein begabter Schüler, was für ein tolles Technik-Talent. A, der Mörder. B dagegen, ein kleiner, aggressiver Mitläufer. Nach Anerkennung heischend. Besonders nach DER seiner Mutter, die die Familie verlassen hat. DIE sich und ihn, B, als „Genie“ bezeichnete. B ist seitdem gestört. Wird gerne gemobbt. Hat sich nicht unter Kontrolle. Und „brauchte“ ein Ventil. Um sich als „Genie“ artikulieren zu können. Um „es“ seiner Mutter „zeigen“ zu können. Wenn er sie demnächst aufsucht. So treffen Schüler A und Schüler B aufeinander. Bzw. umgekehrt. Finden zueinander. Die Schüler in der Klasse sind nun elektrisiert. Zumal sie ja ahnen, wissen, wer gemeint ist.
Unbeirrt fährt die Pädagogin fort: „Es ist die Pflicht von Lehrern, Schüler auf den rechten Weg zurückzuführen. Ich will, dass sie ihre Schuld zugeben und den Wert des Lebens schätzen lernen, die Schwere ihrer Schuld begreifen, sie auf sich nehmen und damit leben“. Deshalb habe sie diesen beiden Schülern ihre Schulmilch vorhin mit HIV verseuchtem Blut beigemixt. Sie sollen, sie müssen sich fortan regelmäßig untersuchen lassen, ob die Seuche bei ihnen „angekommen“ ist. Angst wird künftig ihr ständiger Lebensbegleiter sein. Das war es. „Ich wünsche euch fruchtbare Ferien“.
Fast eine Stunde lang haben wir uns in diesem Klassenraum aufgehalten. In der Mixtur von Vortrag und Gleichgültigkeit, sich steigernd in Häme, Aufruhr und Panik. In der Kollision von Worten. Wörtern. Vielen Wörtern. Die schließlich wie Pistolenkugeln hämmern. Obwohl sie doch mit Bedacht, leise, eher betulich, gar beiläufig „unauffällig“ vorgetragen werden. Doch ihre Wirkung ist von den ersten Sekunden an in dieser „feinen“, bedachten Klangkonstellation enorm. Aufreizend. Packend. Auch mit dieser, gerade wegen dieser begleitenden unterschwelligen wie feinen, dichten Alarm-Musik. Mit dem Klangteppich „Lost Flowers“ von „Radiohead“. Eine verstörende Atmosphäre. Die sich nun „außerhalb“ fortsetzt. Denn DAS war erst die Einleitung. Einführung. In ein Psycho-Gemetzel ungeheuren Ausmaßes. Denn es geht ja weiter. Sehr viel weiter. Mit den Betroffenen. Mit den heimischen Geschehnissen bei den Erzeugern. Mit der Ex-Lehrerin. Die fortan im Hintergrund „die Rache-Strippen“ zieht. Ganz und gar unauffällig. In der Art ihres Anfangs-Vortrages. Ruhig, aber souverän. SEHR souverän sogar. Bewusst. A + B wie Marionetten „auslaufen“ lässt. Obwohl diese sich weiterhin im Recht, im kriegerischen Gesellschaftsvorteil sehen. Nun aber auch immer selbstzerstörerischer agieren. Mit Auswirkungen auf ihre familiäre Umgebung. Und schulische. ALLE sind, werden immer umfangreicher angeknockt. Und sacken immer tiefer ab. Verletzt. Gedemütigt. Verstört. Aufgebracht. Entsetzt. Fassungslos. Ihre Taten wuchern in ihnen. Wummern als Schuld ohne Sühne. Keine Chance. Möglichkeit. Alles kommt auf den Prüfstand: Erziehung, Charakter, Benehmen. Frau Moriguchi ist sich sicher: Ihr Tun ist der Beginn von Gnade und Vergebung. Um sogleich cool anzufügen: „War nur ein Witz“.
Es geht hart zu in „Geständnisse“. Weniger physisch, mehr gedanklich. Seelisch. Im Kräftemessen eines verdorbenen Nachwuchs mit einem zynischen Rache-Engel. Visuell stark. Deutungsstark. In den Wanderungen der Hemisphäre. Wolken. In den „Häppchen“ der mehr und mehr kalten, bösen Details. In den Zeitlupenbewegungen. Motiven. Erinnerungen. Belauerungen. In der ständigen Außeninterpretation von Signalen und Verblüffungen.
„Geständnisse“ ist permanent irritierend, schonungslos, geradezu grausam-fein. Verblüffend. Niemals vorhersehbar. Atmet „Psycho“-Hitchcock-Unruhe wie David Lynch-Bedrohung („Blue Velvet“). Der Mensch, degradiert als emotionales Wolfs-Tier. Mit denselben Instinkten. Von Macht- und Fresslust getrieben. Schon im frühesten Pop-/Verwöhn-/Experimentier-Alter. Von wegen „ihr Kinderlein“…, diese „unschuldigen“ Bastarde. Und WIE sie diese lächelnde Madonna in ihre „poetische“ Real-Wut treiben…..
Ein fesselndes Panorama. Als sensationeller Thriller-Drama-Alptraum. Mit westernhaftem Duell-Geschmack. In stilistischer Farb-Laune. Als konsequente Spannungsästhetik. Der nette, monströse weibliche „Sheriff“ und die jungen Wilden. Die unmoralischen Fighter. Geht DAS an die Birne. Und in den Bauch. Und vibriert köstlich. TAKAKO MATSU als Yuko Moriguchi zeigt sich als wunderbares menschliches Rache-Poem. Schön kalt berechnend. Bitter tief. Tief verbittert. GANZ tief. Faszinierend. In der er-/verschreckenden unerbittlichen Konsequenz. Als feminine Django-Kultfrau.
Während „ihre Schüler“ eindrucksvoll-vehement „mithalten“. Grausam wie cool. Ein prächtiges Darsteller-Ensemble.
Künstler-Cineast TETSUYA NAKASHIMA katapultiert sich mit diesem wuchtigen Stoff und Film in die internationale Bestenliste DER Regisseure, auf die man fortan ständig zu achten hat (= 5 PÖNIs).