DAS FRECHE MÄDCHEN

DAS FRECHE MÄDCHEN“ von Claude Miller (Co-B+R; Fr 1985; 97 Minuten; Start D: 2.10.1986).

Alberne Filme um und über heranwachsende Jugendliche, heute gerne auch als „Kids“ tituliert, sind in den internationalen Produktionen seit Jahren eine thematische Domäne. Was natürlich kaum verwundert, sind es doch vor allem die 12 bis 25jährigen, die heute überhaupt noch ins Kino gehen. Die Israelis waren erstaunlicherweise die Pioniere in dieser Hinsicht, als sie 1978 auf den Internationalen Filmfestspielen von Berlin (!) ihre erste Episode von den „Eis am Stiel“-Freunden vorstellten. War diese noch so was wie ein unterhaltsamer Filmhappen, verkamen die kommenden Folgen, gegenwärtig wird gerade die siebente für die 87er Premiere vorbereitet, zu blödsinnigen, sexistischen Plotten, die aber stets so viel Publikum fanden, dass ohne Risiko weitergedreht werden konnte. Natürlich zogen die Amis nach und erfanden beispielsweise die „Porky“-Streiche und viele andere in diesem saloppen, erfolgreichen Metier, während es dann die Franzosen schon wieder charmanter anließen mit zum Beispiel den beiden „La Boum/Die Fete“—Nettigkeiten.

Mittlerweile hat man sich an diese Filme gewöhnt wie an irgendein Brausegtränk, eine Neugier auf sie besteht in der Regel kaum, sie sind Programmbestandteil wie Popcorn und Eis: also schnell zu verwertende, künstlerisch unbedeutende, unterhaltungsmäßig laue bis doofe Bonbon-Attitüden um Leute über zehn und unter zwanzig. Nun aber gelangt ein Film aus Frankreich in die Kinos, der sich einmal ganz anders, nämlich seriös, mit den seelischen Sorgen und Nöten einer jungen Mademoiselle befasst. Und siehe da, obwohl er seine Protagonisten ernst nimmt und sie nicht andauernd entblößt und verletzt, ist kein pädagogischer Zeigefinger, dabei geht es nicht streng und ernst zu, wird nicht auf den ungestümen Charme und Witz der Jugend verzichtet, ganz im Gegenteil.

Charlotte (CHARLOTTE GAINSBOURG) ist süße 13 und unzufrieden. Sie merkt, dass die Puppenkiste, der Buddelkasten nicht mehr passt, andererseits aber noch kein „Ersatz“ dafür vorhanden ist. Sie fühlt sich leer, unverstanden, bevormundet und ständig auch verarscht. Zum Beispiel vom Bruder, der sie ihrer Meinung nach viel u herablassend behandelt. Oder vom Vater und seiner Freundin, die ihr auch nicht sagen können, was mit ihr passiert. Oder von ihrer kleinen Freundin Lulu, die einfach zuviel „Freundschaft“ verlangt und mittenmal reichlich nervt. „Ich wär‘ gern irgendwer, nur nicht ich“, lautet das momentane Resümee. Verständlich, dass da die Bekanntschaft mit Clara, einem 15jährigen Klaviergenie, gerade richtig kommt. Clara, das bedeutet endlich Abwechslung, aber auch die Welt, das „richtige“ Leben, das Neue. Und scheinbar ist dann Clara auch die Wende und die Lösung all ihrer Probleme, zumal es auch mit dem ersten Freund, Jean, nur Schwierigkeiten gibt.

Es ist die Musik von Mendelssohn, Mozart und Beethoven, es ist die ruhige, besonnene und dabei doch so anregende, faszinierende Beschreibung von Momenten aus einem ‚wirklichen‘ Leben, es sind die hervorragenden Schauspieler. Alles passt zusammen. Da kreischen ausnahmsweise nicht die soundträchtigen ewigen Oldies aus den Fünfzigern, da wird sich Zeit und Gefühl genommen für die Geschichte und ihre Hauptfigur, da tauchen in den sog. ‚Nebenrollen‘ vorzügliche Mimen auf, die eben mehr können als nur Stichwortgeber oder Gagauslöser zu sein. Da wird nicht über Dicke, Doofe, Schwule gehänselt, ist Sex nicht vordergründiger Spekulationsantrieb der Story, werden nicht mehr Banalitäten geplappert. Man darf erstaunt und wieder gespannt sein. Charlotte ist eine ernstzunehmende Erscheinung. Man beschäftigt sich mit ihr und ihren Problemen, ohne diese dabei über zu bewerten oder gar zu heroisieren. Interesse kommt auf, Interesse an Charlotte, die eine „echte“ Gainsbourg ist.

Die Tochter von Serge Gainsbourg und Jane Birkin, die einst mal mit dem „Je t‘aime“-Song Aufsehen erregten, strahlt einiges von der Robustheit, der Zerstörungslust und der sensiblen Sinnlichkeit ihrer Erzeuger aus. Ist störrisch, mürrisch, aufrührerisch wie kokett und verletzlich. Eine Offenbarung von schauspielerischer Unschuld und Raffinesse, zu Recht wurde diese wunderbare Entdeckung in diesem Jahr mit dem Cesar“ für den besten Nachwuchspart belobigt.

Viel Atmosphäre und Kitzel entsteht aber auch durch die bemerkenswerten Auftritte drum herum. Jean-Claude Brialy ist ein alter Fuchs im französischen Film, steht seit nun fast dreißig Jahren auf den Besetzungslisten und ist doch jetzt wieder zu entdecken. Hält jetzt, 55jährig, seinen fetten Wanst in die Kamera und amüsiert sich offensichtlich köstlich darüber, nun endlich nicht mehr den ständig heißen Liebhaber imitieren zu müssen ‚ wo doch alle Welt längst weiß, dass er schwul ist und mittlerweile ‚Bauch‘ trägt. ? Toll, wie er als eitler Impressario agiert, ohne überkandidelt zu wirken. Und Bernadette Lafont, die interessanteste Zweitbesetzung seit den „Nouvelle Vague“-Tagen, steht als Charlottes Ersatzmutter souverän über den Dingen, obwohl ihr hier das kleine Luder ganz offensichtlich die Show stiehlt. „Nach dem Tode von Francois Truffaut habe ich wieder einmal seine Schriften gelesen und war sehr beeindruckt davon, dass er sagte, man müsse Filme machen, die völlig im Dienste der Geschichten und ihrer Figuren stehen. Er meinte auch ‚ der Regisseur solle nicht zeigen, wie großartig er das Kino verstehe. Ich glaube, da hat er völlig recht. Ich will, dass das Publikum beim Verlassen des Kinos nur von ihren Emotionen und der Figur der Charlotte sprechen, nicht von der Inszenierung, den Bildern oder den Kamerafahrten“, erklärt Claude Miller, Jahrgang 1942, die Ambitionen zu seinem fünften Film (zuvor: „Das Auge“, 1982 / „Das Verhör“, 1981 / „Süßer Wahn“, 1977 und „Unser Weg ist der Beste“, 1976). Die ein bisschen kokett klingen und natürlich nicht ganz stimmen. Denn Stimmungen zu verbreiten, ohne dabei großen äußerlichen Aufwand zu betreiben, ist auch Verdienst von Dominique Chapuis der schon die Bilder für den „Tee im Harem der Archimedes“ bestimmte und seine Fingerfertigkeit bewies.

Seine dezente Zurückhaltung, die starke Kraft und Ausstrahlung der Charlotte Gainsbourg und Millers Verständnis und Können, sich in die Mentalität und die Gefühlswelt von einer jungen Frau von 13 hineinversetzen zu können, ohne kitschig, penetrant oder „daneben“ zu liegen, machen die Qualität und den Reiz dieses Filmes aus (= 4 PÖNIs).

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