„FINDING VIVIAN MAIER“ von John Maloof & Charlie Siskel (USA 2013; K: John Maloof; M: J. Ralph; 84 Minuten; Start D: 26.06.2014); wieder so eine Geschichte, die vollends unter die Haut geht, weil sie wahr ist. Und spannend aufregt. Stichwort: Die Entdeckung eines Menschen. Mit Namen: VIVIAN MAIER. Präzise: Dorothea Vivian Maier (1. Februar 1926 – 21. April 2009). Zeit ihres Lebens hatte sie offensichtlich kein Interesse daran, „öffentlich“ zu werden. Obwohl sie eine der wichtigsten „Street Photographer“ des 20. Jahrhunderts war. Wie man heute weiß und durch diesen Film überzeugend erfährt.
Alles begann 2007. John Maloof, 29 Jahre, Historiker aus Chicago und Vorsitzender einer historischen Gesellschaft, kauft bei einer Auktion von Gebrauchtwaren für 380 Dollar eine Kiste, in der sich Fotos und Negative befinden. Für ein Buch-Projekt ist er auf der Suche nach historischen Aufnahmen von Chicago. Und wird enttäuscht. In der Kiste befindet sich nichts Brauchbares für ihn. Viele Zeit später nahm er sich Zeit, „die Sachen“ in der Kiste noch einmal und nunmehr genauer zu betrachten. Was er jetzt dabei entdeckt, sind Foto-Negative, etwa 3000 Rollen nicht entwickelter Schwarzweiß- und Farbfilme sowie Ausschnitte von selbstgedrehten 8mm- und 16mm-Filmen einer Vivian Maier. Und er ist baff. Über diese einzigartigen Dokumente einer völlig unbekannten Künstlerin, die über vier Jahrzehnte im vorigen Jahrhundert ständig mit ihrem Fotoapparat unterwegs war, um einfache Menschen aus dem Volk in ihren Alltagsmomenten aufzunehmen. Afroamerikanische Familien, Arbeiter, Kinder, Obdachlose. Auf den Straßen, in den Slums, auf Viehhöfen, in den Wohnvierteln von Chicago. Überall. Anonyme Menschen, still beobachtet, „geschildert“, mit einem offensichtlich besonders empathischen und demzufolge einzigartigen dokumentarischen Blick. Der ihnen eine Würde des Augenblicks zuordnet. Vivian Maier, eine unauffällige, unaufgeregte, hochbegabte „Spionin“ des Alltags.
Nachdem John Maloof nach ersten Stöbern einige Fotos von ihr ins Internet stellt, um mit der Recherche über diese Unbekannte zu beginnen, entsteht weltweite Neugier. Nach Mehr-Fotos und nach der Biographie dieser Vivian Maier. Als John Maloof damals erstmals bei Google in Sachen ihrer Identität „nachfragte“, war die Antwort null. Heute befinden sich unter ihrem Namen über zehn Millionen Suchergebnisse, kommentiert er in diesem spannenden Such- und Prachtfilm. Den er gemeinsam mit dem Produzenten und Regisseur Charlie Siskel herstellte, der (zum Beispiel) den „Oscar“-preisgekrönten Dokumentarfilm „Bowling for Columbine“ von und mit Michael Moore einst produzierte.
Rastloses Thema: Wer war Vivian Maier wirklich, warum hat sie ihre „fotografischen Urkunden“ Zeit ihres Lebens versteckt gehalten, woher stammt sie, was hat sie sonst gemacht, wer kann etwas über SIE (aus-)sagen, wie überhaupt hat sie gelebt Was war sie für ein Mensch. Wie war sie. UND, natürlich – was sind das für großartige, weil so immens beeindruckende, magische Bilder, die sie „geknipst“, die sie dermaßen umfangreich eingefangen hat, die heute in Paris, London, Moskau oder Paris vorgeführt / ausgestellt, als fesselnde Meisterwerke der realistischen Fotografie des 20. Jahrhunderts behandelt und betrachtet werden.
Vivian Maier, in New York City geboren, in Frankreich aufgewachsen und dann in die Vereinigten Staaten zurückkehrend, arbeitete während eines Zeitraums von 40 Jahren als Kindermädchen. In Chicago. Nahm oft „ihre Kinder“ mit auf ihre Beobachtungsstreifzüge. Immer mit-dabei: die stets um den Hals hängende Rolleiflex. Um jederzeit ihre Porträts schießen zu können. Der Film begibt sich wie ein Krimi-Puzzle auf die mühselige wie umfangreiche Recherche. Sucht und findet Menschen wie ehemalige Arbeitgeber oder inzwischen erwachsenen Kinder von damals. Oder auch nur „Zufalls“-Leute, die sie gekannt haben oder ihr begegnet sind. Die jetzt erst von ihrer „zweiten Existenz“ erfahren und völlig überrascht sind. Von der offensichtlichen Leidenschaft und den großartigen künstlerischen Fähigkeiten ihrer einstigen Angestellten. Der scheuen Frau.
Schließlich spüren die beiden Filmemacher und Lebens-Spurensucher in einem kleinen Ort in Frankreich, Saint-Bonnet-en-Chaupsaur, den Cousin von Vivian Maier auf („Unsere Urgroßväter waren Brüder“). Danach ist man wunderbar vollgefüllt mit Neugier, Faszination und Lust. Auf die eigene Entdeckung in der hiesigen Bücherei. Vivian Maier wird durch diesen Film ab sofort zu einem besonderen Blick- und reizvollen Phantom-Thema.
Es macht unheimlich traurigen Spaß, diesen faszinierenden Film und seinem Weg zu folgen. Ein riesig begabter Mensch stellt mit offenem Detail-Blick in außergewöhnlichen Perspektiven über viele Jahre geniale Aufnahmen, photographische Meisterwerke her. Und lässt sie uns erst jetzt entdecken. „FINDING VIVIAN MAIER“ ist ein sensationeller Dokumentarfilm (= 4 ½ PÖNIs).