EDIE – FÜR TRÄUME IST ES NIE ZU SPÄT

„EDIE – FÜR TRÄUME IST ES NIE ZU SPÄT“ von Simon Hunter (GB 2016/2017; B: Elizabeth O’Halloran; K: August Jakobsson; M: Debbie Wiseman; 102 Minuten; deutscher Kino-Start: 23.05.2019); solche Geschichten mag ich, sie vermitteln ein gutes Gefühl und sind „machbar“: Edie (SHEILA HANCOCK) hat sich ihr Leben lang nach den Bedürfnissen anderer gerichtet. Richten müssen. Sie hat ihren, wie sich herausstellt, garstigen Ehemann nach dessen Schlaganfall vor 30 Jahren aufopferungsvoll und ohne Murren in dem gemeinsamen Londoner Reihenhaus gepflegt. Jetzt ist er gestorben, und die Tochter Nancy (WENDY MORGAN) möchte ihre Mutter so bald wie möglich im Altersheim wissen. Ein „Probelauf“ fand bereits statt. Doch Edie ist widerborstig und verbittert. Auch darüber, dass sie ihr Leben viel vergeudet hat. Sich nie aus den Zwängen der lieblosen Ehe hat lösen können. „Dürfen“. Mit der Tochter ist gerade auch wieder Zoff, weil Nancy in einem alten Tagebuch der Mutter erfährt, liest, dass der Vater und Ehemann eigentlich ein tyrannisches Arschloch war.

Währenddessen hat Edie ganz eigene Pläne. Entdeckt. Möchte DIE Reise nachholen, die sie vor vielen Jahren mit ihrem Vater durchführen wollte, was ihr Gatte jedoch verbot. Die alte Postkarte, die sie aufspürt, vom Panorama um den Berg Suilven in den schottischen Highlands, löst in ihr eine unbändige Wut-Kraft aus. Sie beschließt, dorthin zu reisen und diesen Berg – jetzt endlich – zu besteigen. Das Problem – eigentlich ist sie, antrainiert, ziemlich mutlos. Und mit 83 auch nicht gerade sehr „stabil“. Und als sie am örtlichen Bahnhof ankommt, rennt sie prompt der junge Jonny (KEVIN GUTHRIE) um. Eine Begegnung mit Folgen.

„Die unwürdige Greisin“. Jene bekannte Kalendergeschichte von Bertolt Brecht kommt mir in den Sinn. (Auch eine großartige Verfilmung gibt es nach dieser kleinen Novelle; 1964 vom französischen Regisseur René Allio realisiert, mit der wunderbaren Schauspielerin Sylvie in der Titelrolle). Thema: Eine Frau und ihre zwei Leben: „Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B. … Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre. … Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brotsamen“. Edie ist eine würdige, würdevolle Enkelin dieser Brecht-Greisin. Macht sich auf ihren Weg. Spät, aber immerhin.

SHEILA HANCOCK. Geboren am 22. Februar 1933 in London. Eine englische Schauspielerin und Autorin. Die an der „Royal Academy of Dramatic Art“ ausgebildet wurde. Ein angesehener Bühnen-Star in England. SIE mimt diesen Trotzkopf Edie mit viel angenehmer Rebellion und stoischer Würde. 2016, anlässlich der Dreharbeiten, war sie der älteste Mensch, der den Berg Suilven bestieg. IHR Film ist keine Mitleid-Arie, sondern der im wahrsten Sinne schöne Versuch, aktive Menschlichkeit in einer prachtvollen Umgebung wahr werden zu lassen. Die atemberaubend-schönen, betörenden Landschaftsbilder, die Kameramann August Jakobsson dabei einfängt, einfließen lässt, unterstreichen das überzeugende wie unaufgeregt wie charmant ausgebreitete Empathie-Motto: Du kannst ALLES probieren, machen, angehen, was DU willst. Dabei ist es völlig wurscht, wie alt oder gebrechlich oder sonst was du bist. Wenn DU etwas willst, mach‘ es einfach. Und lass‘ dich bloß nicht von den Normen, Regeln oder Überwachern davon abbringen. Du hast dich schließlich schon zu oft davon abbringen lassen. Jetzt aber ist die Zeit gekommen. Und DU willst ES. Unbedingt DOCH machen.

Ein feiner Film (= 4 PÖNIs).

Teilen mit: