DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME

„DIE SCHNEIDERIN DER TRÄUME“ von Rohena Gera (B + R; Indien/Fr 2017; K: Dominique Colin; M: Pierre Avia; 99 Minuten; deutscher Kino-Start: 20.12.2018); das Kino bietet immer wieder glanzvolle Überraschungen. War es gerade ein starker Film aus Island, der uns aufgewühlt hat („Gegen den Strom“), so ist es eine Woche danach ein moderner Streifen aus Indien, der fasziniert. Als einer der schönsten Liebesfilme überhaupt sowie – als ein jenseits von Bollywood erlebnisreicher Blick auf die rigide indische Kasten-Seele. Geschaffen als Erstlingsfilm von der indischen Drehbuch-Autorin ROHENA GERA, die in Indien aufgewachsen ist und in den USA – in Kalifornien und in New York – ihre akademische Ausbildung erhielt und auch eine Zeitlang in Paris gelebt hat. „Sir“, so der Originaltitel, ist ihr erster und sogleich begeisternder Spielfilm.

Im Mumbai von heute. Eine mit ihren schillernden Hochhäusern moderne gläserne Weltstadt. Hier arbeitet die aus einem Dorf stammende junge Witwe Ratna (TILLOTAMA SHOME). Sie ist Dienstmädchen für Ashwin (VIVEK GOMBER), einen jungen Mann aus wohlhabendem Hause, der in einem großzügigen Hochhaus-Appartement lebt. Ratna, die Zuhause als „Witwe“ nur noch den Zustand „geduldet“ beziehungsweise „gebraucht“ genießt und zwangsverheiratet worden wäre, will ihren eigenen Weg gehen. Wohlwissend, dass sie gesellschaftlich immer „zweitrangig“ sein wird. Dennoch hat sie den festen Willen, irgendwann einmal ihren Traum als Modedesignerin zu verwirklichen. Dafür spart sie, macht nebenbei eine Ausbildung. Und unterstützt ihre Schwester, damit diese bloß ja weiter-studiert.

Im Haushalt von Ashwin, Sohn eines mächtigen Bauunternehmers, ist sie kaum „zu spüren“, nicht richtig „anwesend“. Man sieht sich zwar, begegnet sich aber nie auf Augenhöhe. Sie hat diesen Status verinnerlicht und fügt sich selbstverständlich. Währenddessen ist die geplante Bilderbuch-Hochzeit ihres „Sir“ geplatzt; Ashwin hat dieses „Arrangement“ letztlich und kurzfristig abgeblasen. „Sir“ befindet sich in einer starken Melancholie, zumal die Erinnerungen und Gefühle der Freiheit, die er während seines langen New York-Aufenthalts als Literat genossen hatte, hier im familiären Umfeld und im stressigen Schmelztiegel beziehungsweise „goldenen Käfig“ von Mumbai schmerzhaft nachwirken. Als ihn alle um ihn herum bedrängen, sich bald für seinen weiteren Weg zu entscheiden, ist es nach und nach seine „unbekannte“ Hausangestellte, die mehr und mehr zum behutsamen wie verständnisvollen Gesprächspartner wird. Und er entdeckt dahinter – „überrascht“ – eine willensstarke und sinnliche Frau. Die „zu denken“ und zu argumentieren weiß. Doch die zunehmende tiefe Verbundenheit macht den Beiden auch rigoros bewusst, wie völlig unvereinbar ihre Welten sind, denen sie angehören. Ihr dabei noch viel mehr als ihm. Eine eventuelle Verbindung würde letztlich für beide die totale gesellschaftliche wie soziale Ausgrenzung bedeuten.

Mit sehr viel Bedacht, enormer Sensibilität, einem stillen Humor und ganz außergewöhnlich überzeugend-empfindsamen, authentischen Schauspielern gelingt der Autoren-Regisseurin ein ungemein intensives, feinnerviges, glaubhaftes Emotions-Drama und zugleich ganz unangestrengt ein Sittenbild über die gespaltene Gesellschaft in Indien. Nicht als Anklage, sondern als Bestand bzw. Bestandsaufnahme. Der ruhige Minimalismus, in dem dies beobachtet, geschildert, begleitet wird, sorgt für eine außergewöhnlich-spannende körpersprachliche Atmosphäre. In der sich „der Mann“, zu seiner eigenen Verblüffung, „eman(n)zipiert“.

In Indien sei dies „normal“, beschreibt Rohena Gera im Presseheft ihre Motivation; „Dieser Akzeptanz von extremer Ungerechtigkeit liegt ein zutiefst rassistischer und auf dem Kastensystem basierender Denkansatz zugrunde, demzufolge das Hausmädchen weniger menschlich betrachtet wird“. Und: „Dieser Film wäre für viele Zuschauer in Indien unbehaglich“, glaubt sie. Und hofft gerade, dass ihr Film im nächsten Jahr auch in Indien anläuft.

Das Arthaus-Kino hat zum Jahresende 2018 starke Perlen im umfangreichen Programm; bitte unbedingt nutzen (= 4 1/2 PÖNIs).

 

 

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