„BETTY BLUE – 37,2 GRAD AM MORGEN“ von Jean-Jacques Beineix (Co-B+R; Fr 1985; K: Jean-Francois Robin, M: Gabriel Yared; 121 Minuten; Kino-Start: 18.9.1986); ein weit verbreitetes Kino-Thema ist gegenwärtig wieder einmal – die Liebe.
Gemeint sind damit aber nicht jene Akrobatik-Bilder á la „Blue Movie“, wie es sie schon seit Jahrzehnten in fast immer denselben Stellungen und Verrenkungen gibt, sondern gemeint ist die Liebe als immer wiederkehrendes Suchspiel und Gesellschaftsphänomen. Weil bisher keine Epoche, keine Schicht eine genaue Definition darüber finden konnte, wann Liebe beginnen darf und wo sie aufzuhören hat, beschränkte sich bislang jede Gesellschaft stets auf die Negativformulierung. Wenn von Liebe die Rede war und ist, folgt stets das Aufzählen von Verboten und Reglementierungen. Was musste sich ‚Liebe‘ nicht schon alles gefallen lassen, wie oft wurde sie verfolgt, verurteilt, zensiert, verboten. Filme wie zum Beispiel „Das Lächeln einer Sommernacht“ von Ingmar Bergman (1963), „Das Schweigen“ von Ingmar Bergman (1963) oder „Der letzte Tango in Paris“ von Bernardo Bertolucci (1972) erregten die Gemüter, provozierten Generationen, bloß weil sie – ernsthafte – Bemühungen darstellten auf der Suche, dem Hinterfragen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Nichts hat Menschen bis heute so erregt wie erbost als die neuen filmischen Versuche, dem Phänomen „Liebe“ auf die Spur zu kommen. Warum so ausführlich? Nun, weil auch der neueste und dritte Streich – nach u.a. „DIVA“ von 1981 – des fast 40jährigen Jean-Jacques Beineix nicht nur ein phantastischer, sinnlicher, spannender Liebesfilm ist, sondern weil auch er sich wieder einmal auf eine heikle Reise in die Seele und den Unterleib von zwei außergewöhnlichen Menschen begibt. Und dabei viel Betroffenheit auslöst.
Zwei lieben sich, und sie tun es so ausführlich, intensiv und normal, als ob keine Kamera zuschauen würde. Es geschieht ganz natürlich, und doch ist man von dieser stöhnenden Zurschaustellung sofort berührt. Was soll das und warum so ausführlich, wo doch alles längst ist? Ein Paar liebt sich auf einem Bett. Punkt. Nichts spekulatives dabei, Liebe halt, ebenso normal wie schön und selbstverständlich. Und damit signalisiert Beineix sofort sein Thema. Die Geschichte einer Beziehung eines Paares, die Geschichte ihrer Zärtlichkeit und Sexualität, die Geschichte der Umwelt, die sich damit zu befassen und auseinanderzusetzen hat. Und weil der Wunsch nach Glück, Zweisamkeit und Sexualität auch immer mit den Interessen der „funktionierenden“ Gesellschaft kollidiert, ist auch klar, dass diese Liebe hier nicht reibungslos funktionieren kann, wird.
Ein Film voller Brüche, Unebenheiten, nichts wird so wie man es vermutet. Beineix spielt, jongliert mit Ideen, Gefühlen, Temperamentsausbrüchen, den Figuren. Wobei jedes Mal die Frauen weiter sind, gehen, riskieren. Die Männer folgen ihnen, während die Frauen den Ton angeben, die Richtung bestimmen, die Entscheidungen treffen. Die Frau ist ganz klar die Stärkere. Sie geht an (selbstgewählte) Grenzen, probiert aus, was machbar ist. ER erinnert manchmal an den jungen Gainsborough, wenn er so unrasiert dasteht, mit einer Zigarette in der Hand, frech grinsend, weltverloren, unverschämt, ernst, traurig, mit dem gewissen Etwas von Charme und Hilflosigkeit. Und Gelassenheit. Beineix kann aus diesmal seine Vorliebe für außergewöhnliche Farbaufnahme, so die z.B. eines “wahnsinnig“ gelben Mercedes 230/Schlitten, ausreizen. Sie sehen aus wie die letzten blühenden Instrumente einer ansonsten phantasielos gewordenen Zivilisation. Die nur dann noch reagiert, wenn man sie verrückt kitzelt.
Kleine Episoden, Skizzen einer Liebe. Wie sie nur in Frankreich entstehen kann. Darum geht’s. Sich zurechtzufinden, den Idealzustand von Gefühlen und Seele zu finden. Weiße Katze am Schluss. Das Leben ist gegen mich, sagt sie und hat recht. Das Ende ist Schizophrenie.
DAS ENDE EINER GROSSEN LIEBE! DAS ENDE EINER TRAGISCHEN LIEBE! DAS ENDE EINER GESCHICHTE! Wie es nur das Kino erfinden kann. Es wird nicht lange dauern, dann gilt dieser Film, dieses Meisterwerk als Klassiker (= 5 PÖNIs).