„BAL – HONIG“ von Semih Kaplanoglu (Co-B+R; Türkei/D 2009; 103 Minuten; Start D: 09.09.2010); der BERLINALE-Siegerfilm vom Frühjahr bedeutet das Ende der sog. „“Yusuf“-Trilogie des 47jährigen türkischen Filmemachers: Nach „Yumurta – Ei“ und „Süt – Milch“, die 2007 beim Filmfest in Cannes und 2008 beim Venedig-Festival liefen und von Yusuf als Student und jungem Erwachsenem handelten, nun also „der Kern“ der rückwärts erzählten Menschengeschichte, wie der Filmemacher es in Berlin beschrieb.
Wir befinden uns im ländlichen Anatolien. An der Schwarzmeerküste, im Nordosten der Türkei, nahe Trabzon, wo die von der Zerstörung bedrohte Waldlandschaft (durch geplante Bauten von mehreren Wasserkraftwerken) NOCH ein grünes Paradies ist. Hier wächst der kleine Yusuf (herrlich porentief und seelentief: BORA ALTAS) heran. Als Einzelkind. Inmitten einer Region der Langsamkeit. „Zeit“ bedeutet hier etwas ganz Anderes. Etwas Beruhigendes. Sehen und Fühlen bekommen dadurch eine ganz andere zivilisatorische wie emotionale Dimension. Die NATUR ist hier Mit-Hauptakteur: Das Rauschen der Bäume, die Zwitschergeräusche der Vögel, das Summen der Bienen. Anstatt Musik die „tatsächlichen“ Geräusche. Der Atem des gesamten Lebens.
Yusuf ist ein liebenswerter, freundlicher, träumerischer Bursche. Mit einem reichen Gefühlspotenzial. Er besucht die 1. Schulklasse, tut sich schwer mit dem Lesen, sein Stottern isoliert ihn von den anderen Kindern. Sein Vater Yakup (ERDAL BESIKCIOGLU) ist Imker. Yusuf begleitet ihn oft bei seinen Waldgängen. Und seiner nicht ungefährlichen Arbeit. Denn die Bienenstöcke werden in hohen Baumwipfeln angelegt. Yusuf lebt hier auf und weiß viel über die Blüten, die Bienen und den Honig. Doch der Imker-Beruf ist gefährdet. Viele Bienen sterben, die Erträge schrumpfen. Eines Tages macht sich der Vater deshalb auf, um neue Gebiete zu erkunden. Yusuf bleibt mit seiner jungen Mutter zurück, mit der ihn wenig verbindet. Als der Vater nicht zurückkehrt, verliert das Kind seinen sicheren Halt.
Wie leben wir? Wieso „so“ und nicht „anders“? Zum Beispiel rücksichtsvoller, respektvoller, harmonischer im Umgang mit der Natur? Ohne DIE keine vernünftige Existenz möglich ist? WIE verändert sich „Leben“ in solch einer Umgebung, an solch einem einsamen wie reichen Natur-Ort unseres Planeten? Der geduldige, einfühlsame Hier-Blick des Alltäglichen. Fremd, neugierig, magisch. Tief. Aber nie verklärend. Die Bewegung, die Körpersprache, die Gesten „zählen“, die stumme Beobachtung. „Sprechen“ ist hier Sehen, Zusehen. Fühlen. Mitfühlen. Das „Hören“ von Natur. „Bal“ ist endlich einmal kein Plapperfilm wie so viele andauernd um uns herum, ganz im Gegenteil. Und DAS tut so gut.
Ein Kind wächst auf. Seine innere Entwicklung. Die faszinierende spirituelle Ich-Poesie in „dieser“ Umgebung. Einfach aufwachsen. Fesselnde Bildermotive als Seelen-Kommentar. Die Wahrnehmung des Lebens. „Es wird uns immer besser gehen, aber dabei werden wir zusehend verelenden“, ein Gedanke aus einem alten Dustin Hoffman-Film kommt mir in den Sinn („Wer ist Harry Kellerman?“ von Ulu Grosbard/1970). Wir entwickeln uns immer weiter, fortschrittlicher, die modernen Zeiten hören nie auf, aber wird ES dadurch auch „besser“, vorteilhafter, lebenswerter? Was ist bedeutsamer: Eine zufriedene Existenz/Seele oder das gefüllte Portmonee? Blöder Vergleich? Warum?
„BAL“ ist ein phantasieanregendes, bewegendes Gedanken-Movie. Eine unter die Haut gehende, wunderschöne Seelen-Ballade mit sehr viel Poesie-Charme. Und mit einer berührenden, mitnehmenden Melancholie-Spannung. „Am Ende besiegelt die Schönheit das Geheimnis einer kindlichen Seele“, hieß es im Frühjahr abschließend in der Kritik eines Zeitungskollegen („Berliner Zeitung“).
„BAL“ ist ein ganz und gar kostbarer Kinofilm (= 4 ½ Pönis).