ATLAS

PÖNIs: (4,5/5)

„ATLAS“ von David Nawrath (Co-B + R; D 2017/2018; Co-B: Paul Salisbury; K: Tobias von dem Borne; M: Enis Rotthoff; 100 Minuten; deutscher Kino-Start: 25.04.2019); es ist das Langfilm-Debüt des Kurz- und Fernsehfilm-Filmers DAVID NAWRATH. Über den so gut wie nichts bekannt ist (selbst „das Netz“ spuckt derzeit nur Biographie-„Häppchen“ über ihn aus), außer: Jahrgang 1980; in Berlin geboren. Nach diesem fulminanten Langfilm-Debüt wird sich das ändern, schließlich – „ATLAS“ ist ein kühnes Meisterwerk!

RAINER BOCK. Genau – so. Bekannt unbekannt. Mittlere Größe; ausgestattet mit einem zerfurchten Gesicht. Der am 31. Juli 1954 in Kiel geborene Schauspieler gehört zu den wohl bekanntesten Nebendarstellern im deutschen TV- wie Kinofilm. Man erkennt ihn, aber nicht „genau“. Wie einen „unter ferner liefen“ – das ist doch DER? – identifizierten Akteur. Co-Drehbuch-Autor Paul Salisbury schwärmt von ihm und seiner „markanten Gesichtslandschaft“. Die längst auch international geschätzt wird. Nachdem Steven Spielberg Rainer Bock als Arzt in „Das weiße Band“ von Michael Haneke gesehen hatte, besetzte er ihn ohne Casting für einen kleinen Part in seinem Kriegs-Tierfilm „Gefährten“. Was weitere namhafte Filmkünstler wie Quentin Tarantino („Inglourious Basterds“), Brian De Palma („Passion“) und Anton Corbijn („A Most Wanted Man“) veranlasste, ihn zu verpflichten. Dennoch blieb dem vielseitigen Vielarbeiter die ganz große Rampe bislang verwehrt. Damit ist es jetzt vorbei: Mit „ATLAS“ betritt und gehört RAINER BOCK jetzt die große Bühne. Und wie er sie füllt, wie er präsent ist, wie er charismatisch unauffällig-auffällig agiert, erinnert an die ganz großen Motive und Bewegungen von einstigen – jungen – Stars wie Jean-Paul Belmondo („Der Teufel mit der weißen Weste“), Lino Ventura („Der zweite Atem“) oder Alain Delon („Der eiskalte Engel“) aus den französischen Gangsterfilmklassikern eines Jean-Pierre Melville („Vier im roten Kreis“). DIE waren damals vergleichsweise jung in ihren Höhenflug-Anfängen; RAINER BOCK musste erst (zur Drehzeit) 63 werden, um neben den bisherigen Zumeist-Parts als böser, kalter, intellektueller Machtmensch – wie zuletzt als Euthanasie-Arzt in „Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck – jetzt in die Rolle des Möbelpackers Walter zu schlüpfen, dessen Lebensmotto zum Titel passt: „Jeder legt sich seine Last selber auf, und jeder muss sie auch selber tragen“.

In der griechischen Mythologie hat Titan ATLAS als Strafe das Himmelsgewölbe, den Globus, auf seinen Schultern zu tragen. Walter, der verschlossene, meist eher schweigsame ehemalige Gewichtheber, hat sich schon längst daran gewöhnt, schwere Lasten zu tragen und Last stoisch auszuhalten. Walter arbeitet seit vielen Jahren für Roland (auch so ein geschätztes deutsches Immer-Wieder-Nebendarsteller-Face: UWE PREUSS), dem Chef einer Frankfurt-Main-Firma, die sich auf die „robuste“ Zwangsräumung von Altbauwohnungen spezialisiert hat. Als Gerichtsvollzieher ist ihm, auch schon eine lange Zeit, Alfred zu Diensten (= ein weiteres, sehr bekanntes, hervorragendes Nebendarsteller-Ass: THORSTEN MERTEN). Man ist ein verschworenes Team, das diese schäbige wie legale Arbeit routiniert verrichtet. Doch dann kriegt der Job einen üblen Beigeschmack. Boss Roland ist „gierig“ geworden. Hat sich mit einem arabischen Clan zusammengetan. Bekommt von dort deren schmutziges Geld „zum Waschen“. Indem er mit deren Money billig einen Altbau kauft, ihn „vehement“ entmietet, um ihn dann für das Dreifache zu verscherbeln. So dass der Clan danach, mit seinem profitablem Anteil, eine nunmehr „saubere“ Rendite erwirtschaftet hat. Bisher lief alles paletti, doch nun weigert sich in einer Immobilie eine Familie, diese praktische Gentrifizierung mitzumachen, also gegen eine Abfindung auszuziehen. Dabei handelt es sich um Jan (ALBRECHT SCHUCH) mit Ehefrau und kleinem Jungen. Selbst unverhüllte Drohungen helfen nicht. Es wird kriminell. Auch und vor allem beim bislang so in sich ruhenden Walter, der in Jan seinen vor 30 Jahren „aufgegebenen“ Sohn entdeckt und es sich fortan zur Aufgabe macht, ohne seine Identität preiszugeben, Jan & Familie zu helfen. Was ihn – natürlich – in Konflikt mit seinem Gewissen und seiner Firma bringt. Denn dort hat der Clan inzwischen einen „Aufpasser“ installiert, Moussa (ROMAN KANONIK), der für eine sehr viel härtere Gangart gegenüber Jan und seiner Familie plädiert. Was Walter endgültig aus seiner Reserve lockt.

Ein deutscher Film. Ganz ohne Adolf Hitler und Speed-Dating. Sondern mit sehr viel Realitätsgeschmack. Als politischer Genre- wie privater Spannungsfilm. Sowohl als hervorragend-funktionierender Gentrifizierungs- beziehungsweise Zivilcourage-Thriller wie auch als packend-diskretes Vater-Sohn-Drama. Mit viel atmosphärischer Berserker-Wut geladen = auftrumpfend: selten ein so exzellent aufeinander abgestimmtes, passendes Ensemble erlebt. Mit enormer Charakterstärke wie überzeugender, aber eben nicht blinder Wut-Stärke. Und ohne simple Anklage daher-kommend wie etwa: Warum-dürfen-solche-Machenschaften-bei uns-Sein?-Attacken. Das, was brutal gezeigt wird, spricht alleine und ohne ideologische Ausrufungszeichen entsetzliche Bände. Diese düster-menschelnde Thriller-Geschichte ist ebenso clever durchdacht wie insgesamt emotional stimmig.

Mit eben jenem RAINER BOCK an der schmutzigen Rampe, der diesen erstaunlichen, großartigen Film wahrlich auf seinen Schultern trägt und dabei grandios begeistert. Großes Kompliment diesem Autoren-Regie-Talent DAVID NAWRATH; fortan kein Unbekannter mehr (= 4 1/2 PÖNIs).

 

 

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