Es ist ein – schlechter – Witz: Was wir an wöchentlichen beziehungsweise monatlichen Kinofilm-Neuangeboten serviert bekommen, ist vielfach grottig. Gut, wenn dieser „Schrott“ sich dann als Verkaufsschlager erweist, kann man Verleih & Kino verstehen. Wenn allerdings überragenden Neu-Filmen keine Chance für eine Kino-Auswertung bekommen und stattdessen gleich im Heim-Kino landen, ist dies mehr als schade. Bedauerlich. Ziemlich deprimierend. Um solch einen Hochkaräter von Kinofilm handelt es sich bei meiner aktuellen Heimkino-Empfehlung:
„99 HOMES“ von Ramin Bahrani (Co-B, Co-Produzent + R; USA 2013/2014; Co-B: Amir Naderi; K: Bobby Bukowski; M: Antony Partos, Matteo Zingales; 112 Minuten; Heimkino-Veröffentlichung: 07.04.2016).
„Basierend auf wahren Ereignissen“, heißt es eingangs. Dies will ich wohl glauben, denn selten war in den letzten Jahren ein amerikanischer Spielfilm derart dermaßen realistisch wie spannend. Politisch nahegehend. Florida. Schöne Gegend. Angenehmes Klima. Für ein Familien-Leben bestens geeignet. Dennis Nash (ANDREW GARFIELD), ein bodenständiger, stinknormaler, ehrlicher Handwerker. Alleinerziehender Vater eines kleinen Sohnes. Gemeinsam mit seiner Mutter Lynn (LAURA DERN) und dem kleinen Connor lebt er im eigenen Heim. Dem Elternhaus. Dennis, ein typischer Mittelständler. Der das Pech hat, an einem Hausbau mit-gearbeitet zu haben, der abgebrochen werden muss, weil der Bauherr Pleite gegangen ist. Keinen Lohn zu bekommen bedeutet aber auch, die Raten für sein Haus an die Bank nicht mehr zahlen zu können. Wir befinden uns im atmosphärischen Fieber-Amerika kurz nach der Finanzkrise. Die gierige wie erfolgreiche Beute-Geier hervorgebracht hat wie Rick Carver (MICHAEL SHANNON). Seines amtlichen Zeichens lizensierter Immobilien-Makler. Der eng mit Behörden, Banken, der Justiz und örtlichen Polizisten, die ihn „Chef“ nennen, zusammenarbeitet. Zwar meint Dennis noch zu seinem Sohn Connor, „Die werden uns nicht kleinkriegen; wir sind doch die Guten“, da steht Carver mit der amtlichen Meute schon vor seiner Haustür und macht der Familie klar: „Dieses Haus gehört jetzt der Bank“. Zwei Minuten bleiben, um das Nötigste mitzunehmen. Dann ist „Mittelstand“ passé.
Man landet in einer Motel-Absteige. Ist fassungslos. Wütend. Ratlos. Bei seinen vielen Anstrengungen, einen neuen Job zu bekommen, strandet Arbeiter Dennis ausgerechnet bei jenem Rick Carver. DER will dessen handwerkliche Begabung und clevere Schnelligkeit für seine Zwecke nutzen: „Wenn du für mich arbeitest, gehörst du mir“, lautet das Credo. Dennis Nash begibt sich in profitable Abhängigkeit. Bei, mit diesem faustischen Deal. Mit einem Verführer auf der machtvollen, erfolgreichen Überholspur. Denn viele Bürger können die einst so großzügig von den Banken gewährten Kredite nicht mehr abzahlen und werden aus ihren Häusern geschmissen, auf die Straße gesetzt. Seht doch zu, wie ihr Dumpfbacken weiter klarkommt. „Wollen Sie etwa, dass der Steuerzahler für die Fehler Einzelner aufkommt?“; tönt Rick Carver zynisch. Weiß aber auch zu vermitteln: „Amerika hilft nicht den Verlierern!“ Sowie: „Amerika wurde groß, weil es den Gewinnern hilft“. Und: „Wir sind Teil einer Nation von Gewinnern für Gewinner durch Gewinner“.
Dennis hat die Wahl: Finanziell abzudriften, in die gesellschaftliche „Unterklassigkeit“ mit seiner Kleinfamilie zu geraten oder das tägliche kapitalistische „Gewinn-Spiel“ a la „Monopoly“ mitzumachen. Als Handlanger von Rick Carver genau SO aufzutreten, zu agieren, wie jener unmoralische, aber rechtlich (meistens) „einwandfrei“ handelnde Mephisto, den offensichtlich niemand aufzuhalten vermag. Im Gegenteil: Der vom System die volle Unterstützung erhält. Bekommt. Das mentale Amerika liebt nun mal seine rüden, protzigen Gewinner. Egal, wie diese „Siege“ auch zustande kommen. Gekommen sind. Hauptsache Platz 1 im Geld-Rennen. Allerdings: Skrupel sind verboten. Gier dagegen ist voll erlaubt. Denn: „Nur einer von 100 schafft es auf die Arche, alle anderen saufen ab“ (Rick Carver).
„99 Homes“ lief im Vorjahr im Wettbewerb beim 71. Venedig-Filmfestival. Danach wurde das brillante Spannungswerk beim Filmfestival im französischen Deauville, wo in jedem September neue amerikanische Filme vorgestellt werden, frenetisch gefeiert und von der Jury um den Regisseur Benoit Jacquot mit dem „Hauptpreis“ bedacht. Der für ein Mini-Budget von 8 Millionen Dollar hergestellte Film sei „ein Werk von großer Dringlichkeit, dessen brennende Wut viele Zuschauer tief nachempfinden können, die sich selbst oder Menschen, die sie kennen, auf der Leinwand erkennen“, hieß es in „The Hollywood Reporter“. Während das „Rolling Stone“-Magazin den Film „…packend, aufrührerisch und von der Überzeugung beseelt, einen Unterschied machen zu können“, nannte. „Unrecht ist spannend“, meldete dagegen die „FAZ“ und erklärte: „Sozialdrama, Thriller und Hauptwerk eines Ausnahmeregisseurs“.
ROGER EBERT (1942 – 2013) war einer der bedeutendsten Filmkritiker der USA. 1975 erhielt er den erstmals für Filmkritiken vergebenen Pulitzer-Preis. Roger Ebert bezeichnete den Iranisch-stämmigen Filmemacher RAMIN BAHRANI, geboren am 20. März 1975 in North Carolina, anlässlich des Starts seines Films „Chop Shop“ 2007 als „Direktor des Jahrzehnts“. Hierzulande kennen wir den an der Columbia-Universität von New York City zum „Professor für Filmregie“ ernannten Ramin Bahrani über seinen vorletzten Film „Um jeden Preis“ (2013), in dem es auch ums radikale amerikanische Gewinnen oder Verlieren ging. Mit „99 Homes“ hat sich der Produzent, Drehbuch-Autor, Regisseur und gelegentliche Schauspieler in die Erste Liga der amerikanischen Filmemacher katapultiert. Seine allgemeingültige Geschichte von der brutalen Kehrseite des „american dream“ kommt nicht als dröges Sozialdrama mit Belehrungsdrang daher, sondern als raffiniert entwickelte, höllisch spannende, als große zeitgemäße Unterhaltung. Als Wut-Werk mit enormen, prächtigen Emotionen.
Der bislang zweimalige neue Spider-Man-Interpret ANDREW GARFIELD (2012/2014) spielt das anständige Familien-Oberhaupt Dennis Nash mit identifizierbarer Verzweiflung. Als Unrechtsopfer, der seine Chance nur noch in einer höchst unanständigen, höchst lukrativen Vereinbarung mit dem „Money-Teufel“ sieht. Und über dem die Dauerfrage schwebt, wird er tatsächlich so wie ER? Wie sein nunmehr „Herr“? MICHAEL SHANNON, „Oscar“-Nominierung 2009 als „Bester Nebendarsteller“ in „Zeiten des Aufruhrs“, bekannt durch Filme wie „Tödliche Entscheidung – Before the Devil Knows You’re Dead“ (2007); „Take Shelter – Ein Sturm zieht auf“ (2011) und aus der Klasse-TV-Serie „Boardwalk Empire“ (2010 -2014), zieht als kapitalistischer Bluthund, als faustischer Mentor und „amerikanischer Gewinner“, faszinierend die funktionalen Strippen. Als Rick Carver offenbart er einen faszinierend-reellen Dämon, mit perfekt-unterkühlter Starkstrom-Mimik und brodelnd-cooler Satans-Seele. Sein grandioser, ungemein präsenter Fieslings-Auftritt bringt das Blut ständig in Höchstwallung.
„99 Homes“, ein Meisterwerk. Das auf die große Leinwand gehört, „nicht auf Tablets oder Smartphones“ („FAZ“) und eigentlich – anfangs – auch nicht als deutsche Premiere auf dem TV-Bildschirm zu Hause. Und: Auch bedauerlich, dass hierfür kein Heimkino-Bonusmaterial angeboten wird; die Neugier über „das Dahinter“ ist enorm.
„99 Homes“ ist ein 5 PÖNIs-Movie !!!!!
Anbieter“ „EuroVideo Medien“