„303“ von Hans Weingartner (Co-B + R; D 2017; Co-B: Silke Eggert; K: Mario Krause; Sebastian Lempe; M: Michael Regner; 145 Minuten; deutscher Kino-Start: 19.07.2018); „303“, so heißt der Wohnmobil-Klassiker: Modell Mercedes Hymer 303, von 1980 mit dem die 24jährige Biologie-Studentin Jule (MALA EMDE) von Berlin gen Süden düst. Die Zeiten sind nicht gerade „goldig“ für sie: Die Biochemie-Studentin hat gerade ihre Prüfung vergeigt, außerdem ist sie auch noch ungewollt schwanger. Kurz entschlossen packt sie ihre Utensilien zusammen und fährt mit besagtem „Vehikel“ Richtung Portugal, wo ihr Freund Alex gerade seine Doktorarbeit schreibt. Mit ihm will sie besprechen, wie es mit ihnen – und dem Kind? – weitergehen soll. Als sie an einer Tankstelle kurz nach der Abfahrt den gleichaltrigen Anhalter Jan (ANTON SPIEKER) aufliest, der sich in Richtung Nordspanien bewegt, um seinen leiblichen Vater aufzuspüren, beginnt „der Kontakt“. Erst kriegen sie sich in die Verbal-Haare, dann treffen sie Stunden später wieder aufeinander und bleiben beeinander, also fahren zusammen weiter.
Zeit finden. Zeit haben. Sich Zeit nehmen. „303“ ist ein Entschleuniger-Movie, bei dem es um Worte, also Sätze, also Gedanken und nicht so sehr um „Aktionen“ geht. Um Gespräche, die erst „allgemein“ sind, um dann immer „näher“ zu werden und zu kommen: über Gott und die Welt; das Leben des Neandertalers, sein Aussterben, um Politik, den Kommunismus & Kapitalismus; um den Konsum und die Biologie. Die Evolution und ihre Bedeutung. Gefühle und so was. Der Wert von Beziehung-heute. Ein Road Movie nach dem Ruhepol-Motto: Sprechen ist alles, modern ist anders.
Sich darauf einlassen, ist schon der Dreiviertel-Gewinn: Zwei „Helden“ (die alles andere als solche sind) sorgen für Nähe. Spannung. Atmosphäre. Mit dem, was sie sagen, denken, fühlen, ausdrücken. Mit dem Neugier-Fokus: Wie eigentlich, meine Güte, wir sind erst 24, wie funktioniert eigentlich diese Welt? Mit welchen Assoziationen und Zusammenhängen? Oder: In welchem „Zustand“ bewegen Wir-Beide uns eigentlich gerade? Und wieso findet gerade unsere Begegnung statt und hat dies etwas zu bedeuten?
Die Franzosen haben in den Siebzigern „solche Filme“ beeindruckend bewegt. Zum Beispiel „Die Mama und die Hure“. Von Jean Eustache. 219 Minuten blanke Sprach-Spannung. Und -Entwicklung. Als Denk-Dokument der Epoche um 1973. In einem Lichtspiel, in das man faszinierend eingebunden war. Ähnlich hier: Was sich anfangs „wie eine mögliche Belästigung“ gibt – weil man Nur-Sprache ohne lärmende Dazu-Aktionen gar nicht mehr gewohnt ist -, entwickelt sich zum ungemein neugierigen, porentiefen Energie-Movie. In dem ein Paar verpeilt ist, dem man immer unverstellter, wissen-wollender neugierig gerne folgt. Weil diese Spontanität ungekünstelt wirkt und Jule & Jan immer interessanter werden. Anstatt langweiliger. MALE EMDE (die Anne Frank in dem TV-Doku-Drama: „Meine Tochter Anne Frank“/2015) & ANTON SPIEKER (Kinofilm: „Von jetzt an kein zurück“/2014) besitzen atmosphärische Chemie; man kann und will nicht abkehren von ihnen. Dass daraus weit über zwei Kino-Stunden „mit ihnen“ werden, ist erstaunlich. Schön.
Der Österreicher Hans Weingartner, Jahrgang 1970, der im Deutschen Film einst so unterschiedlich politisierte mit seinen Filmen „Die fetten Jahre sind vorbei“ (2004/s. Kino-KRITIK) und „Free Rainer – Dein Fernseher lügt“ (2007/s. Kino-KRITIK) erinnert mit seinem Zuhör-Epos an die Richard Linklater-Ära mit zum Beispiel „Before Sunrise“ (1995) & Co. und lässt denkend erleben: das verletzliche Leben oder – es besteht Hoffnung (= 3 1/2 PÖNIs).