ALLES WAS KOMMT

PÖNIs: (4/5)

„ALLES WAS KOMMT“ von Mia Hansen-Love (B + R; Fr/D 2015; K: Denis Lenoir; M: Raphael Hamb urger; 100 Minuten; Start D: 18.08.2016); die Drehbuch-Autorin, Regisseurin und ehemalige Schauspielerin wurde am 5. April 1981 in Paris als Tochter einer Philosophie-Lehrerin und eines Übersetzers geboren. Sie verdankt ihren untypischen Nachnamen ihrem dänischen Großvater väterlicherseits. Ihr fünfter Spielfilm lief auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb; Mia Hansen-Love wurde mit dem „Silbernen Bären“ als Regie-Preis ausgezeichnet.

„L’avenir“ („Die Zukunft“), so der Originaltitel, erinnert mich an ihren Erfolgsfilm „Der Vater meiner Kinder“ aus dem Jahr 2010 (s. Kino-KRITIK), der ebenfalls von der Psychologie des Lebens erzählte. Ein Mann ist bemüht, seine beruflichen Ambitionen mit dem privaten Glück zu verbinden. Nathalie (ISABELLE HUPPERT) steht als Philosophie-Lehrerin, die an einer Sekundarschule in Paris unterrichtet, mit beiden Beinen und klaren Ansichten in ihrem Leben. Sie mag es leidenschaftlich, ihren Schülern aufgeschlossenes „(Nach-)Denken“ zu vermitteln. Natalie ist verheiratet, Mutter zweier Kinder, die längst aus dem Haus sind, streitet sich gerne bei Treffen mit ehemaligen Schülern und hat es mit einer besitzergreifenden Mutter zu tun. Zudem veröffentlicht sie philosophische Aufsatzbände bei einem Kleinverleger, der ihrer Buchreihe soeben ein neues Layout verpasst hat, was ihr aber überhaupt nicht passt. Das Leben läuft in guten Bahnen, darf man feststellen, auch wenn Nathalie von ihrer greisen Mutter extrem emotional drangsaliert wird. Dann aber erklärt ihr der Ehemann, dass er sich nach 25jähriger Ehe „zu verändern“ wünscht, er habe sich in eine jüngere Frau verliebt. Und verlässt Nathalie. Die ihren inneren Seelen-Zorn über „dermaßen Banalität“ nur mühsam zu beherrschen vermag.

Eine Frau, Ende 50. Die Mutter stirbt, sie ist nun „endgültig“ frei. Gut oder Nicht-Gut? Wie fortan empfinden? Auftreten? Suchen? Leben? Nathalie ist über sich selbst erstaunt, weil sie sich nicht „kaputt“, sondern bisweilen eher „amüsiert“ fühlt. Mit ihrem kühlen Intellekt scheinbar wirklich alles zu regeln weiß. Keine Schwächen zulassen, ist und bleibt ihre eigene Lieblingsregel. „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluß“, lautete 1988 ein Film von Étienne Chatiliez. Zumindest dem Titel-Spruch kommt „L’Avenir“ nahe: Das Leben von Mathilde bildet einen Werte-Fluss, an dem sie (zunächst?) festhält, obwohl ihre jüngere intellektuelle Links-Umgebung indirekt dies an ihr kritisiert.

Aber was denn nun: an Lösungsrhythmen? An die wir im Kino gewohnt sind? Mia Hansen-Love liebt nuancierte Zwischentöne, verzichtet auf klare Diktion: Eine couragierte, eigenständige Frau wird dabei beobachtet, wie sie die Philosophie ihres neuen Lebens angeht. Die Eltern-Generation bestimmt das Lust-Thema der Autoren-Regisseurin. Dabei symbolisiert die atmosphärisch-herbe wie urbane „Natur“ – ob in der schönen Bretagne, ob in den Alpen – die windig-sonnigen Befindlichkeiten. Dieser Nathalie, die von der herrlich spröden, körpersprachlich sensationell ausdrucksstarken ISABELLE HUPPERT köstlich verinnerlicht und belebend ausgestrahlt = weitergegeben wird. Die Huppert zelebriert ein wahres Seelen-Beben, ohne dass sie dafür viele Worte benötigt. Mit einer phantastischen (An-)Spannung von Wehmut, Melancholie und tragischer Heiterkeit; man taumelt in ihren Sog: Isabelle Huppert zieht einen unweigerlich in den faszinierenden Bann. Musikalisch diskret wie thematisch angemessen begleitet von Franz Schubert („Auf dem Wasser zu singen“) bis Woody Guthrie („Ship in the Sky“).

Sich auf „Alles was kommt“ einzulassen, ist ein sensibler Genuss-Gewinn (= 4 PÖNIs).

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