„ZWEI TAGE, EINE NACHT“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne (B + R + Produktion; Belgien/Fr/Italien 2013; K: Alain Marcoen; M: Jean-Pierre Duret; 95 Minuten; Start D: 30.10.2014); SIE haben zweimal die „Goldene Palme“ von Cannes gewonnen (für „Rosetta“/1999 sowie für „Das Kind“/2005) und einmal dort den „Sonderpreis der Jury“ (für „Der Sohn“/2002) zugesprochen bekommen. „Der Junge mit dem Fahrrad“, ihr vorletztes Werk, gewann 2011 den „Europäischen Filmpreis“ für das „Beste Drehbuch“ sowie 2012 den „Golden Globe“ als „Bester fremdsprachiger Film“. „Zwei Tage, ein Nacht“ reichte Belgien kürzlich für die „Oscar“-Auswahl zum „Besten fremdsprachigen Film“ 2015 ein. Die Brüder JEAN-PIERRE DARDENNE (geboren am 21. April 1951) und LUC DARDENNE (10. Marz 1954) zählen zum besten europäischen Personal in Sachen spannendes, intelligentes Autoren-Kino.
Überlege mal, was würdest DU machen? Wenn eine Kollegin von der Arbeit vor Deiner Haustür erscheint und bittet, auf die zugesagte Prämie des Arbeitgebers zu verzichten, damit sie /wodurch sie nicht entlassen werden würde? Würdest du zustimmen? Oder wäre dir das egal? Weil dir das Geld, die 1.000-EURO, wichtiger wäre? Um Gewissensbisse, solidarisches Handeln ja oder nein oder verständlichen beziehungsweise kalten Egoismus geht es in dem neuen Unter-die Haut-Sozial-Drama der klugen Brüder Dardenne. Und – vor allem – um eine Frau, die an einem Wochenende um ihre berufliche wie menschliche Existenz kämpft.
Sandra („Oscar“-Lady MARION COTILLARD/die Edith Piaf in “La Vie en Rose“) ist angeschlagen. Sandra lebt mit ihrem Mann Manu und ihren beiden kleinen Kindern in einem bescheidenen Haus am Stadtrand der belgischen Stadt Seraing. Die labile Frau leidet unter Depressionen, nimmt Pharmaka und war einige Zeit krankgeschrieben. Am Montag will sie die Arbeit in der kleinen Solartechnik-Firma wieder aufnehmen. Aber dort gab es inzwischen diese Abstimmung: 14 der 16 Mitarbeiter haben sich dafür entschieden, einverstanden zu sein, wenn Sandras Stelle als Rationalisierungsmaßnahme gestrichen wird und sie dafür mit einem Bonus von eintausend Euro rechnen können. Allerdings gab es hierbei wohl Manipulationen seitens der Chef-Etage, so dass diese Abstimmung am nächsten Montag erneut und geheim durchgeführt werden wird. Sandra hat genau zwei Tage und eine Nacht Zeit, für ihr Ansinnen persönlich zu werben. Und zieht, unterstützt, besser „gecoacht“, von ihrem Ehemann, von Tür und Tür, um mit den Kollegen persönlich zu sprechen. Überzeugungsarbeit in eigener Sache zu leisten.
Das ist die Geschichte. Als aktuelles Thema: Wie geht man „mit So Etwas“ heutzutage um. Existiert genügend Solidarität oder sind die Argumente „der Gegenseite“ nicht auch stichhaltig? Jeder hat sein Da-Sein, seine Existenz, aufgebaut. Hat Rechnungen zu bezahlen. Muss selbst sehen, wie man über die finanziellen Runden kommt. Wie und überhaupt wieso soll man denn hier wegen dieser „schwächlichen Sandra“ auf verlockendes Geld verzichten? „Ich würde ja gerne helfen, aber versetze dich doch in meine Position“, hört Sandra oft. Und hat man dafür nicht auch – irgendwie – Verständnis? Wenn man an eigene Formulierungen denkt, die man in solch einer Angelegenheit eventuell selbst benutzen würde???
In „Zwei Tage, eine Nacht“ gibt es keine „Bösen“ (nur der Ehemann einer Kollegin entpuppt sich als aggressives Arschloch) und keine „Guten“. Jeder ist (und wird) gefragt, wie er/sie auf diese Ökonomisierung menschlichen Handelns zu reagieren, zu handeln, gedenkt. Die Brüder Dardenne urteilen und vor allem verurteilen nicht. Keine moralische Keule. Jeder behält seine Würde. Verdient Respekt. Darf gehört werden und anerkannt bleiben. Das Ende ist verblüffend, aber typisch für das Brüder-Paar.
Ein berührendes Gesellschafts-Drama. Das mit dem Kopf spannend hantiert. Wie ein Thriller. Sieg oder Niederlage. Gewinn oder Niederlage. Der verbale Boxkampf läuft. Mit einer erneut sensationellen MARION COTILLARD. Die sich mit ihrer Rolle vereint. Völlig zu identifizieren vermag. Als trotzige, fast zusammenbrechende und sich dann doch wieder aufrappelnde Sandra. Ungeschminkt und aufgelöst, mental eigentlich überhaupt nicht „in Form“ für solch eine „Wochenend-Arbeit“ fightet sie – am Rande des Nervenzusammenbruchs – für ihr Anliegen. Die zärtliche Cotillard ist /wirkt ungeheuerlich. Identifizierbar. Verletzlich. Porentief. Mit sparsamster, überzeugender, glaubhafter, intensiver Körpersprache. Ihr „Spiel“ ist tief unter die Zuschau-Haut gehend. Empfinden-pur. Die resignierende wie kämpferische Seele von Sandra unaufdringlich wie eindringlich ausbreitend. Balancierend zwischen Unbehagen, Trotz und Hoffnung. Und dabei UNS so anregend mit-einbeziehend.
„Zwei Tage, eine Nacht“ ist ein großartiger, aufregender und sehr denk-spannender, humaner Politfilm-Marathonlauf der Gegenwart; offenbart wahrhaftige – und bedeutungsvoll-weit überregionale – Zeitgeschichte von 2014 (= 4 ½ PÖNIs).