„ZWEI LEBEN“ von Georg Maas (Co-B + R; D/Norwegen 2012; Co-B: Christoph Tölle, Stale Stein Berg, Judith Kaufmann; K: Judith Kaufmann; M: Christoph M. Kaiser & Julian Maas; 99 Minuten; Start D: 19.09.2013); im Kino ist der 1960 in Aachen geborene, in Berlin lebende Regisseur ein fast völlig Unbekannter. Georg Maas, der von 1984 bis 1991 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Regie studierte, nahm ab 1994 an Regie-Masterklassen der Europäischen Filmakademie bei István Szabo, Tilda Swinton und Krzysztof Kieslowski teil. Er hat zahlreiche Dokumentarfilme für das Fernsehen geschaffen, zudem realisierte er Videoclips, Videoinstallationen und Industriefilme als Kameramann, Dramaturg und Cutter. „NeuFundLand“ war 2005 sein erster Kinospielfilm. Sein jetzt zweiter Kinofilm wurde kürzlich als Deutschlands Anwärter für die Nominierungen zum nächsten Auslands-„Oscar“ bestimmt. Im Mittelpunkt: Eine Frau zwischen mehreren Identitäten, Ich- gefangen zwischen Politik und Kriminalität und Privatsein.
Im April 1940 überfiel Nazi-Deutschland Norwegen. „Lebensborn“ nannte Heinrich Himmler einen Verein, der Teil seines rassenpolitischen Projektes war, um „arische Kinder“ „zu sichern“. Um sie eines Tages zur „Aufnordung des Blutes“ nach Deutschland zu bringen. Wenn also eine Norwegerin ein uneheliches Kind von einem Deutschen gebar, nahmen die Deutschen Besatzer diese Kinder „gerne in Empfang“. Damit die Norwegerinnen sich bei „Lebensborn“ meldeten, lockte man sie mit großzügigen materiellen Unterstützungen und Leistungen (kostenlose Unterbringung in Entbindungs- und Kinderheimen; kostenlose Erstlingsausstattungen, hohe Unterhaltszahlungen). Bis Kriegsende wurden bis 250 Kleinkinder nach Deutschland „zur Germanisierung“ geschickt. Die meisten Transporte endeten in Kohren-Salis bei Leipzig. Wo die Kinder im dortigen Lebensbornheim „Sonnenwiese“ untergebracht wurden. Bis Familien für sie gefunden waren. Nach Kriegsende wurden die Kinder auf Pflegestellen „verteilt“. Oder von „Interessenten“ aus dem Heim geholt. Jedenfalls wachsen die meisten dieser norwegischen Kinder in Sachsen auf. In den Zeiten des Kalten Krieges übernahm die DDR-Stasi einige dieser heranwachsenden Kinder, um sie zu „Kundschafter“ heranzuziehen. Wie Katrine (JULIANE KÖHLER). Sie wird zu ihrer Mutter Ase (LIV ULLMANN/deutsche Stimme: Judy Winter) nach Hause in Norwegen zurückgeschickt. Dort arbeitet sie als Fotografin, verliebt sie sich in den Marine-Offizier Bjarte (SVEN NORDIN), gründet eine Familie, sie bekommen die Tochter Anne (JULIA BACHE-WIIG). Deren Baby Turid vervollständigt dann 20 Jahre danach das Familienidyll. Das nun aber durch die Öffnung der Mauer in Deutschland ins Wanken gerät. Denn plötzlich wird Katrine mit ihrer „doppelten“ Vergangenheit konfrontiert: Als „Lebensborn“-Kind und als Stasi-Spitzel. Der deutsche Anwalt Sven Solbach (KEN DUKEN) hat es sich auf die Pflichtfahne geschrieben, „die alten Dinge“ amtlich zu recherchieren, öffentlich zu machen und länderübergreifende Entschädigungen zu fordern. Jahrzehntelang konnte Katrine ihre Mehrfachidentität verschleiern und verdrängen, nun aber geht es an das persönlich Eingemachte. Ihr Leben beginnt erneut mächtig „zu trudeln“. Zumal ihr DDR-Führungsoffizier vor Ort immer noch beziehungsweise weiterhin Disziplin und Gehorsam verlangt.
Das Team um Georg Maas erzählt dies nicht gerade „durch“, sondern mit grobkörnig gehaltenen rückwärtigen Erklärungsspieleinblendungen. Dies wirkt nicht immer geschickt, bisweilen etwas unbeholfen in der dramaturgischen Auslotung wie auch an manch anderen Bruch-Stellen, etwa wenn Katrin plötzlich „kurz mal“ tageweise verschwindet und dann „dies“ vor ihrem Mann begründen soll; und auch das Verhör vor Europäischen Interessenten gerät wenig nahe und dicht. Aber auch die staksigen norwegisch-deutschen Charakterisierungen sind in ihrem etwas simplen Gut-Böse-Schema nicht unbedingt „erfrischend“. Doch dies sind Kleinigkeiten eines Quasi-Regie-Debütanten angesichts des komplexen wie spannenden Themas, dem er sich rechtschaffen angenommen hat. Georg Maas hat einen außerordentlich passablen Polit-Thriller geschaffen hat. Mit unaufgeregtem Tiefgang und spannenden Neugedanken (Lebensborn & Folgen). Als melodramatischen Nervenkitzel. Über eine gescheite wie kriminelle wie sensible Frau, deren Leben sich zusammenhängend als üble Achterbahnfahrt anschaut. Zur falschen Zeit am falschen Ort geboren, benutzt, mitgemacht, zur Ruhe gekommen, enttarnt.
JULIANE KÖHLER, 47, einem breiten Publikum aus Filmen wie „Aimee und Jaguar“ (1999), aus dem „Oscar“-prämierten Drama „Nirgendwo in Afrika (2001) und vor allem natürlich als Eva Braun in Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ (2010) bekannt, taucht überzeugend und psychologisch geschickt, also angespannt- zerrissen in ihre Katrine ein. Ist quasi in jeder Szene mit im Bild und leistet erstklassige verzweifelnde Seelentiefebewegungen. Ebenso wie knallharte konsequente Vertuschungsbemühungen. Diese Dilemma-Balance zwischen „Lieb“ und „Elend“ so präzise körpersprachlich, also überzeugend brüchig hinzukriegen, ist erstklassig. Außerordentlich dicht. Und sehr spannend. Gedacht. Ausgeführt. „Zwei Leben“ ist eine aufregende tour de force in Sachen Tatsachen-Historie und menschliche Verwicklungen. Darin. Als Opfer und Täter. Dank einer intensiven, jederzeit auf glaubwürdiger Sinnhöhe sich bewegenden Juliane Köhler. Sie ist sehr beeindruckend, bewegt sich außerordentlich eindrucksvoll. UND: Es ist eine Wonne, einmal wieder das Ingmar Bergman-Urgestein, die 75jährige LIV ULLMANN („Szenen einer Ehe“), dermaßen atmosphärisch belebend erleben zu dürfen. Eine „immense“ Persönlichkeit!
Sich mit diesem, nach wahren Begebenheiten realisierten Film „Zwei Leben“ zu befassen lohnt, weil Kopf wie Bauch gleichermaßen hochinteressant beansprucht, spannend gefordert sind (= 4 PÖNIs).