„WOLKE 9“ von Andreas Dresen (Co-B+R; D 2008; Co-B: Cooky Ziesche; Laila Stieler; Jörg Hauschild; K: Michael Hammon; 98 Minuten; Start D: 04.09.2008); einem wirklich ehrenwerten Regisseur.
Der 45jährige Geraer, Sohn des Theater-Regisseurs Adolf Dresen und der Schauspielerin Barbara Bachmann, absolvierte ein Volontariat im DEFA-Studio für Spielfilme und war Regie-Assistent bei Günter Reisch (“Anton, der Zauberer“). Darauf folgte von 1986 bis 1991 ein Regie-Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen “Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg, das er mit einem Diplom abschloss. Seit 1992 ist Dresen als freier Autor und Regisseur tätig, ist zugleich Mitglied der “Akademie der Künste Berlin-Brandenburg“ sowie der Deutschen Filmakademie. Nach schon vielbeachteten Fernsehfilmen (“Kuckuckskinder“/1994; “Die Polizistin“/2000 = “Adolf-Grimme-Preis“ in Gold) entstanden solch erfolgreiche Kinofilme wie “Halbe Treppe“ (2002/“Deutscher Filmpreis“ in Silber) und “Sommer vorm Balkon“ (2005). Im Vorjahr erhielt er das “Bundesverdienstkreuz am Bande“.
Andreas Dresen ist der gewitzte Lobbyist der “kleinen“, der “normalen“ Geschichten und Leute im Kino. “Wolke 9“ hatte seine Welturaufführung im Frühjahr bei den Filmfestspielen von Cannes innerhalb der Nebenreihe “Un Certain Regard“, stieß auf großes Interesse und bekam viel Lob. Denn das Thema ist ein lange kino-vernachlässigtes: Liebe, Sex, Leidenschaft, Zärtlichkeit, Zuneigung im Alter. Jenseits der “werberelevanten Körper- und Fratzen-Kultur“, die tagtäglich auf uns Medien-nervös niederprasselt. Nach “Kirschblüten – Hanami“ von Doris Dörrie und “Elegy“ von Isabel Coixet nun also “Wolke 9“:
Inge und Werner. Ein Berliner Rentner-Ehepaar. Seit 30 Jahren verheiratet. Sie ist Mitte 60, er über 70. Die alltäglichen Lebensgewohnheiten sind ebenso eingespielt wie genügsam: Werner liebt Bahnfahren und hört schon mal Schallplatten mit dem spezifischen Rattern und Zischen der unterschiedlichsten Dampfloks. In der Wohnung atmet es in Sachen Möbel und Tapeten den 70er Jahre-Look. Als der 76jährige Karl auftaucht, überfällt es Inge wie ein Erdbeben. Wie ein Teenager im dritten Lebensalter ist sie mittenmal wieder verliebt. Selbst staunend, fühlt sie, erlebt sie, MACHT sie. Die Ehe hält dem Ansturm nicht stand, auch, weil Inge nicht lügen kann, nicht lügen will.
Ein lange Zeit feiner Film. Bei dem man durchaus streiten darf, ob man – wie hier – jedem Forum der Intimität bewohnen sollte. Denn Andreas Dresen rückt seinen Protagonisten buchstäblich “auf die Pelle“. Was aber weder peinlich wirkt noch ist, sondern mit sinnlicher Würde glaubwürdig als Themen-Vermittler überzeugt. Gerade bei welker Haut, bei Falten und Furchen sowie den ungelenken Bewegungen. Ein bisschen “planloser“ wird es da schon beim Spielen OHNE DREHBUCH. Mit fiktiver Biographie entwerfen alle drei Hauptfiguren ihre Typen selbst und improvisieren ihre Texte. Zusammen mit der dokumentarischen Kamera von Michael Hammon kommt man dadurch den Menschen ganz schön nahe, sind aber dramaturgische Durchhänger oder Wiederholungen manchmal mehr als nur momentweise Atempausen. Das Entscheidende aber ist die letzte halbe Stunde:
Wenn dieser kleine, feine, atmosphärische Alters-Liebesfilm plötzlich einen ganz schalen, unklugen, reaktionären Beigeschmack bekommt. Wenn nun aus Inge vehement “die Sünderin“ gemacht wird. Wenn sie bildlich “schuldig“ gesprochen wird, wenn nunmehr Tränen, Entsetzen, Leere, Schuldgefühle en masse sowie Trauer an der Tagesordnung sind. Wenn Inge emotional böse “büßen“ muss. Für ihre Doch-Unmoral? Für ihr Doch-falsches-“Gefühls-Umsteigen“ im Alter??? Für das mutige, couragierte, aber eigentlich auch ganz “normale“ Überhaupt-Zulassen von Nochmal-Leidenschaft im vorgerückten Alter???
Würde der Film im Mittelalter spielen, würde man sie jetzt verbrennen, fühlt man mittenmal. Und ist verstimmt. All die guten Denk- und Fühl-Ansätze und -Absichten bekommen plötzlich einen üblen Beigeschmack. Motto: Ältere Frau (oder alter Mann), bleib bei deinen Lenden-Leisten, sonst kommt doch der dicke Hammer und fällt dich moralisch nieder. Hält dich “unten“. Völlig unverständlich diese Entwicklung, dieser düstere Epilog, dieses schwere wie schwermütige Schuldbrummen.
URSULA WERNER, HORST REHBERG und HORST WESTPHAL sind spannende Gesichter, Körper, Menschen. Ein Dreier-Dream-Team, das lange Zeit für Neugierde, Anteilnahme, Betroffenheit, Lächeln, Mit-Gefühl sorgt. Für den völlig verkorksten Schluss können sie nichts, hätten sich aber, eventuell – so ohne Drehbuch, also mitbestimmend – gegen diese Tendenz wehren sollen. Dann wäre “Wolke 9“ vielleicht ein Meisterwerk geworden, so aber wirkt die schlussendliche Schuldigsprechung der “unmoralischen Frau“ verstimmend lange nach. Ein zwiespältiger Wurf ( = 3 PÖNIs).