DER VERDINGBUB

DER VERDINGBUB“ von Markus Imboden (Schweiz/D 2010; B: Plinio Bachmann; K: Peter von Haller; 103 Minuten; Start D: 25.10.2012); meine Güte, was haut dieser Film vehement wichtig zu. Denn sein Thema besitzt Vielgültigkeit. Verweist zwar eindringlich auf einstige „Schweizer Verhältnisse“, geht aber – wie wir heute von auch woanders, z.B. aus Irland, wissen – weit über Landesgrenzen hinaus. Motto: Wenn du Pech hast und zur falschen Zeit alleine auf der Welt oder von deinen eigenen Eltern „verschachert“ worden bist, hast du die Lebens-Arschkarte gezogen. Wie der Waisenjunge Max. Wir blicken auf dörfliche Schweizer Zustände um 1950. Armut gilt in jener Epoche hier als Makel. Als eine „selbstverschuldete Krankheit“. Natürlich bedingt durch Faulheit und oder Dummheit. Beziehungsweise umgekehrt. Denn wer fleißig war, diszipliniert und kirchentreu lebte, konnte nicht arm, also nicht „gesellschaftskrank“ sein.

Das Presseheft informiert: Die Geschichte der Verdingkinder ist eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Zwischen 1800 und 1950, in einzelnen Gemeinden auch noch danach, rissen die Fürsorge-Behörden viele hunderttausend Waisen-, Scheidungs- und uneheliche Kinder aus ihrem Umfeld. Steckten sie in Heime und boten sie Bauern als sklavenähnliche Arbeitskräfte an. Plus „amtlichem“ Kostgeld. Die Kinder wurden wie Leibeigene für Zwangsarbeiten eingesetzt. Benutzt. Obwohl die Schweiz schon ab 1912 Gesetze zum Schutz von Kindern einführte, hielten sich in vielen Fällen nicht einmal die Vormundschaftsbehörden daran. Ihr Interesse war es, die eigenen Ausgaben für Waisenkinder möglichst gering zu halten. Und Kinder aus schwierigen Verhältnissen in „ordentliche“ Familien zu stecken. Wenn nötig, auch mit Polizeigewalt.

Der 12jährige Max (immens überzeugend, darstellerisch ungemein sensibel präsent: MAX HUBACHER) ist Waise. Hofft auf eine „richtige“ Familie, als ihn der „geschäftstüchtige“ Pfarrer auf dem Bauernhof der Bösigers verdingt. Doch das genaue Gegenteil tritt ein: Der knochige, trunksüchtige Bauer (STEFAN KURT) und seine verhärmte Frau (beeindruckend: KATJA RIEMANN) sowie der gerade vom Militärdienst zurückgekehrte Sohn Jacob (MAX SIMONISCHEK) halten und behandeln Max wie „Vieh“. Er muss barfuss schuften wie ein Erwachsener, bekommt Schläge, „wenn es geboten ist“, wird seelisch traktiert. Ständig untergebuttert. Doch wem soll, kann er sich in diesem schweigenden Umfeld anvertrauen? Einzig, wenn er auf seiner Handorgel Musik macht, bekommt er ein wenig Anerkennung. „Draußen“. Im Wirtshaus. Was in der bäuerlichen Familie gar nicht gern gesehen wird. DIE noch „Zuwachs“ bekommt. Mit der 15jährigen Berteli (ebenfalls außergewöhnlich kind-stark: LISA BRAND), einem weiteren Verdingkind. Sie wurde schweren Herzens von ihrer alleinstehenden Mutter „tauglich weggegeben“. Verursachte zu viele Kosten. Zuhause. Auf sie hat es vor allem Jacob nachts „abgesehen“. Als eine junge neue Lehrerin in der Gemeinde auf diese Zustände und Verhältnisse aufmerksam wird, eskaliert die grausame Situation auf dem Bösiger-Hof.

Von wegen Mittelalter. Gerade erst vorvorgestern geschehen. Passiert. Und wird jetzt erst „aufgearbeitet“. Seit einigen Jahren. In der heute „peinlich berührten“ Schweiz. Der Film ist ein guter tiefer Schlag in die Magengrube und findet sich wütend auf Gedankenebene ein. War im Vorjahr in der Schweiz (mit über 250.000 Besuchern) ein Kino-Hit. Was waren DAS für Zustände? DIE Menschen mit Menschen errichteten? Einrichteten? Vermeintlich bibelfeste Menschen. Die verantwortungslos wie heuchlerisch wie egoistisch auf „Befohlene“ eindroschen. Abhängige. Körperlich wie seelisch. DIE ihresgleichen eiskalt vernichteten. Für ein erhofftes besseres eigenes Leben. Auf grausame Zeiten samt zerstörter, kaputter Menschen blickt dieser Film. Auf permanente Lebens-Verlierer. Deren Äcker genauso verkommen sind wie sie selbst. Regisseur Markus Imboden bemüht sich, „Haltung“ zu wahren. Zu bewahren. Will keine filmische Anklage, sondern erheben, wie es war und warum es damals SO war. Authentisch wie emotional. Fürchterlich atmosphärisch. Sein Werk ist ein bedeutungsvoller Aufschrei. Für alle jene „Kreaturen“ gedacht, die einst „dermaßen“ gehalten, behandelt und auch getötet wurden. Derzeit gibt es politische Gespräche, wie die misshandelten, missbrauchten „Verdinger Überlebenden“ entschädigt werden können. Max, so die ungemein eindringliche Schlussszene, hat überlebt. Dank der, dank SEINER Musik. Sein Schlusston gräbt sich für lange Zeit in UNS ein. Ganz tief. Solidarisch. Mitfühlend. Kopfvoll.

„Der Verdingbub“ ist nicht nur eine packende regionale filmische Aufarbeitung bei unserem Nachbarn, sondern auch ein großartig starker Welt-Film (= 4 PÖNIs).

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