„TEE IM HAREM DES ARCHIMEDES“ von Mehdi Charef (B+R; Fr 1985; 110 Minuten; Start D: 28.11.1985)
Die Geschichte der Entstehung dieses Films ist so interessant wie der Film selbst. Mehdi Charef, ein heute 33-jähriger, in Paris lebender Algerier, arbeitete noch vor zwei Jahren in einer Fabrik. Michele Ray-Gavras, Produzentin und Ehefrau des durch Filme wie “Z“ oder “Vermißt“ weltweit bekannt gewordenen Regisseurs Costa-Gavras, stieß durch einen Zeitungsartikel auf seinen Roman “Le Thé au Harem d‘Archimede“, den er neben seiner Arbeit geschrieben hatte und der im Februar 1982 veröffentlicht wurde. Sie sicherte sich umgehend eine Option auf die Filmrechte und forderte den jungen Mann auf, selbst das Drehbuch zu verfassen. Die schwierige Finanzierung und Vorbereitung zur Realisierung des Projekts dauerte schließlich rund eineinhalb Jahre, währenddessen, mit “behutsamer“ Unterstützung und Beratung von Costa-Gavras selbst (um die Finanziers zufrieden zu stellen), aus dem Autor Charef schließlich auch der Regisseur Charef wurde. Der Rest ist das Wahrwerden eines Traums. Der Debütfilm wurde in Frankreich auf Anhieb mit Preisen, Kritikerlob und Publikumszuspruch nur so überhäuft. In Cannes beispielsweise erhielt er in diesem Jahr den Nachwuchspreis des französischen Kinos, gleichzeitig wurde ihm der diesjährige Jean-Vigo-Preis zugesprochen, und kein geringerer als Claude Chabrol schrieb im Mai in “Le Monde“ eine einseitige Hymne, die voller Achtung und Bewunderung für diese Arbeit und die Leistung des Mehdi Charef steckte.
“Tee im Harem des Archimedes“, der Titel bezieht sich auf ein Missverständnis in der Schule, das Folgen für den unfreiwilligen ‘Autoren‘ haben soll, erzählt vom eben in einer dieser vorgroßstädtischen Betonwüsten. Dort herrscht im allgemeinen Ghettoatmosphäre und dort findet man in der Regel auch die Aussätzigen der Gesellschaft: Alte, Sozialschwache, Ausländer. Während sich die meisten Alten mit diesem Dasein und Abgeschoben sein abgefunden haben, gibt es bei ihren Jungen noch reichlich Träume, Hoffnungen und Lebenslust. Und entsprechende Aktionen. Von ihnen erzählt dieser Film, von ihrer Unruhe, ihrem Aufbegehren, ihrer Suche “nach draußen“. Speziell zwei werden besonders in Augenschein genommen. Der Franzose Pat (RÉMI MARTIN), der sich mit den Gegebenheiten angefreundet hat und auf sie auf seine Weise reagiert, und DER Algerier Madjid (KADER BOUKHANEF), der zwar in Frankreich geboren wurde, aber wegen seiner Familie nicht ‘Franzose‘ werden darf. Sie besteht weiterhin auf den familiären Ausnahmezustand, auf eine Übergangszeit, und will auf gar keinen Fall die Abnabelung von der Heimat, von der Religion, von den herkömmlichen Traditionen. So befindet sich Madjid ständig in einem Zwiespalt. Arbeit bekommt er nicht, weil er nicht Franzose ist (und auch nicht. die “entsprechende“ Hautfarbe besitzt), aber die Staatsbürgerschaft darf er auch nicht annehmen, obwohl sie ihm sicherlich einiges erleichten würde. Dabei kennt er seine “Heimat“ höchstens von der Ansichtskarte oder vom Fernsehen.
Der Film beschreibt die Freundschaft der zwei, ihre mitunter kriminellen Versuche, um zu Geld zu kommen, ihre Suche nach Zärtlichkeit und Liebe, zeigt ihren Tagesrhythmus inmitten großer Sehnsüchte und Langeweile. Dabei unterlässt es der Film, allgemeingültige Polit-Phrasen nachzuzeichnen, etwa als anklagendes Sozialdrama daherzukommen, mit einer flauen Milieumitleidsschilderung aufzuwarten oder sich in Form einer vollmundigen Dokumentation auszudrücken, ganz im Gegenteil. Die hervorstechenden Eigenschaften dieses erstaunlich professionell und mit sicherem Gespür für sensible Spannung hergestellten Streifens sind die glaubwürdigen, überzeugenden Akteure und die Schaffung einer sehr dichten, aber unaufdringlichen realistischen Atmosphäre. Zwar ist hier der Kampf ums Überleben mit harten Bandagen zu führen, dennoch verlieren diese Protagonisten dabei nie ihre Wärme und ihren Humor. Mehr und mehr‘ entsteht der Eindruck, dass hier jemand ist, der weiß, wovon er zeigt und spricht.
Die Begegnung mit Mehdi Charef anlässlich der Präsentation seines Films bei den diesjährigen Hofer Filmtagen bestätigt denn auch schnell diesen Eindruck. Roman und Film sind bis auf kleine Randveränderungen absolut autobiographisch. Als er 11 war, ist er mit seiner Mutter und dem Bruder zu seinem schon längere Zeit in Frankreich lebender Vater gezogen und kam in eine Schule, die man mit der hiesigen Sonderschule vergleichen kann. Eine Schule für Lernbehinderte. Da waren französische Kinder aus Alkoholiker-Familien, von Prostituierten…, alles was eben in der normalen Gesellschaft nicht akzeptiert wird“. Dabei kamen sein Bruder und er, wie Mehdi Charef betont, aus sehr intakten. Familienverhältnissen, konnten aber die Sprache nicht und waren demzufolge durch diese Situation sehr geängstigt, weil man sie dort natürlich als Außenseiter behandelt und auf den Gängen schlimme Sachen mit ihnen angestellt hat.. Mehdi fing schon mit 14/15 mit dem Schreiben an. Nur für sich, ohne den anderen davon zu erzählen. Einzig im Fußballspielen wurde die Isolation ein wenig durchbrochen, ansonsten hatte “Bildung, Erziehung für uns keinen Sinn, weil wir wussten, dass selbst durch die Schule nichts zustande kommt, weil wir durch unsere Herkunft benachteiligt waren“. Aber er hatte auch sehr schnell mitbekommen, dass der Familienwunsch, irgendwann nach Algerien zurückzukehren, sich nicht erfüllen würde. “Ich wusste, ich würde immer entwurzelt sein.“. Aber er möchte heute auch nicht wieder zurück, weil zurück gleichzeitig für ihn auch “zurück zur Familie“ bedeutet, und das “ist nämlich Rassismus“. “Die Fremdenangst in Frankreich rührt daher, dass der Kern der Familie etwas ist, was grundsätzlich nicht nach außen offen ist. Familie bedeutet für mich Rückschritt. Ich fühle mich gern als Entwurzelter, was zwar auch Probleme mit sich bringt, aber ich ziehe es vor, entwurzelt anstatt engstirnig zu sein“.
Mehdi hat zehn Jahre in der Fabrik gearbeitet und immer an den Wochenenden geschrieben oder wenn er sonst Zeit fand. “Ich fand das keineswegs außergewöhnlich, weil die Ausdrucksnotwendigkeit für mich gleichzusetzen ist mit Leben. Aus einer Angst heraus, innerlich abzusterben, entstand diese Notwendigkeit zu schreiben. Dabei ist es auch ein Fehlurteil der hiesigen Gesellschaft zu glauben, dass Fremde, die aus sogenannten unterentwickelten Ländern kommen, nicht in der Lage seien, sich auszudrücken“. Der Wunsch, vielleicht eines Tages einmal selbst einen Film zu machen, war schon in Algerien da, als er seinen ersten Film, einen schwarz-weißer amerikanischer Western, sah. Dennoch war er in der ersten Zeit in Frankreich wenig im Kino, weil das Geld nicht reichte. “La Strada“ mag er wie überhaupt die Filme von Fellini und alle Filme von Scorsese. “Ich mag alle Filme, die aus dem Bauch kommen, also Gefühle vermitteln“.
Als bei einem kleinen Verlag sein Roman herauskam, veränderte dies sein Leben kaum. Was er bekam, war umgerechnet nicht mehr als sein Fabriklohn, nur seine Kameraden “haben dadurch vielleicht auch Mut bekommen, etwas zu tun“. Als er dann den Film machen konnte, haben sie allerdings gedacht, dass er jetzt Millionär sei. “Sie glauben, wenn man ins Fernsehen kommt, ist man grundsätzlich reich“. Er genießt mittlerweile den Vorzug, jetzt machen zu können, was er will, aber ein ‚Franzose‘ ist er damit längst noch nicht geworden. “Ich bin immer noch Algerier. Es wäre ja auch völlig sinnlos, jetzt Franzose zu werden, weil mich die Leute auf der Straße. niemals für einen solchen halten würden. Aber die Nationalität ist mir im Grunde auch völlig egal, wenngleich…die Situation schon etwas surrealistisch ist, weil ich in Frankreich lebe, arbeite und trotzdem keiner der ihren bin“. Aber, was auf dem Papier steht, ist ihm doch ziemlich gleichgültig, “die Hauptsache ist doch, dass ich weiterhin. meine Filme machen kann“ (= 4 ½ PÖNIs).