„POLAR“ von Jacques Bral (Co-B+R; Fr 1983; 97 Minuten; Start D in der OmU-Fassung: 29.03.1985; in der deutschen Synchronfassung/ZDF: 10.06.1988).
So hat es sich zugetragen, fängt der Mann an zu reden. Er heißt Eugène Tarpon und ist Privatdetektiv in Paris. Und es geht ihm, wie vielen rechtschaffenden Privatschnüfflern des Kinos – schlecht. Er wohnt in einer kleinen Mansardenwohnung abseits der Prachtboulevards, in der Küche, Schlafzimmer und Arbeitsraum eins sind, achtet aber im Gegensatz zu seinen früheren Leinwandkollegen penibel auf Reinhaltung und Sauberkeit. Fleißig tapert er Tag für Tag durch die Gegend und wirft seine Visitenkarten in die Briefkästen, “Detektei Euègne Tarpon. Nachforschungen, Beschattungen. 100% Diskretion. Günstige Konditionen“‚ aber ohne Erfolg. Klienten hat er seit Monaten keine, seine Ersparnisse aus der Zeit, als er noch als Polizist tätig war, ein Job, den er aufgab, als durch seine Schuld bei einer Demonstration ein Teilnehmer umkam‚ sind aufgebraucht, sein Mut, seine Lust sind gesunken, er signalisiert Aufgabe. Ruft seine Mutter an, dass er zu ihr aufs Land zurückkehren wird, fragt beim Vermieter nach, ob er die Kaution oder Teile davon zurückbekommen kann und hat sich eigentlich schon mit dem Pariser Abschied und dem Ausstieg abgefunden, als es doch noch “klingelt“. Im wahrsten Sinne des Wortes und mitten in der Nacht natürlich.
Eine junge Frau bittet aufgeregt um Einlass, sie hat eine seiner Visitenkarten gefunden und bittet ihn um Hilfe. Ihre Mitmieterin, eine Freundin, mit der es in letzter Zeit andauernd Trouble gab, ist tot. Offensichtlich ermordet. Eine Sache für die Polizei, nicht für ihn, winkt Eugène müde ab. Sie aber lässt nicht locker, ist nervös, in seinen Augen also reichlich verdächtig, dringt nochmals auf ihn ein, doch zu helfen. Als er wieder ablehnt, wieder auf die Zuständigkeit der Polizei verweist, wird sie wütend, rammt ihm das Knie in die Eier und verschwindet. Natürlich
bereitet so ein Abschied nicht nur Schmerzen, sondern auch Neugier. Anstatt sich nun für die letzten Stunden als erfolgloser Kundschafter ins Bett zu packen wie geplant, begibt sich Eugène an den Tatort, wo ihn sogleich die Polizei aufschnappt, rüde verhört und trotz seiner reichhaltig merkwürdigen Begründung, was er denn so spät noch in der Nähe des Hauses, wo der Mord passierte, gemacht habe, wieder auf freien Fuß setzt. Aber was heißt von nun ab ‚freier Fuß‘? Kaum dass er ein paar Schritte wieder in Freiheit ist, ist es endgültig aus mit seiner Ruhe und Ausstieg. Er steckt mittenmal ganz dick im Schlamassel. Er wird entführt, bedroht, geschlagen, kann sich mit sehr viel Mühen und noch mehr Schmerzen wieder raus schleppen, um sogleich auf neue Widersacher zu stoßen.
Eugène Tarpon hat jetzt unfreiwillig einen Fall, aber er weiß nicht ob er nun Jäger oder im Grunde der Gejagte ist. Man will offensichtlich was von ihm, aber was genau, dass wird ihm und uns nie so recht klar. Es geht wohl um den Aufenthaltsort dieser jungen Frau von neulich Nacht, die Charlotte heißt und sich auf so rüde Art und Weise davonmachte. Auch die Polizei würde den gerne erfahren, aber Eugène weiß ihn ja wirklich nicht. Und dann aber geht es auch noch um eine Skulptur, die eine wesentliche Rolle spielt und die verdammte Ähnlichkeit mit dem „Malteser Falken“ besitzt, Ein Pornoregisseur, von Claude Chabrol mit wunderbarem Widerwillen knautschig-zynisch vorgeführt, kann ihm oder will ihm nicht weiterhelfen, und dann taucht plötzlich Charlotte auf. Jetzt könnte sich für den Schnüffler doch noch alles zum Besten wenden, er bräuchte sie ja bloß der Polizei ausliefern und wäre endgültig aus dieser Misere von Fall raus. Zumal seine Mutter schon mit dem Essen wartet und andauernd nur Prügel statt Schlaf zu bekommen, was ja auch nicht gerade das große Vergnügen bedeutet. Ach ja, ein Freund oder sagen wir besser, ein auch so liederlicher Antiheld wie Eugène, der alte Journalist Haymann, ist dann noch mit von der Partie, bei ihm kann Eugène immer mal wieder durchatmen und einen trinken, bevor er wieder geschunden wird und nicht weiß, warum. Während der emsige Inspektor Coccioli nicht versteht, warum er diesen depressiven Detektiven nicht schon längst hinter Schloss und Riegel gebracht hat, sondern sich stattdessen mit diesem auch noch andauernd trifft und mit ihm über die Ermittlungsergebnisse spricht.
Es ist schon diese eigenständige, kleine Krimiwelt, die sich hier zeigt, die typische, vielgeliebte, faszinierende Welt von abgewrackten, ausgepumpten Schnüfflern, überarbeiteten und immer zu spät reagierenden Polizisten, saufenden Journalisten, bei denen man nie weiß, ob sie eigentlich Freund oder Feind sind, attraktiven Ladies, die die Helden auch noch die letzten Nerven kosten, und überaus gewalttätigen Gangstern, bei denen man höllisch aufpassen und rechnen muss, zu welcher bösen Seite sie zuzurechnen sind.
Jacques Bral, Co-Autor (nach dem Roman “Morgue Pleine“ von Jean-Patrick Manchette, einem der erfolgreichsten und meistgelesenen Kriminalschriftsteller Frankreichs) und Regisseur, der mit seinem vorletzten Film „Die Taxifahrerin“ auch hierzulande das cineastische Publikum in Entzücken versetzte, zelebrierte einen Genrefilm ganz in der Tradition von Hammett und Chandler, die er verehrt, aber dennoch ganz eigenständig und ganz ‚französisch‘ – modern: “Es ist sehr schwierig, wenn man versucht, einen französischen Privatdetektiv auf realistische Weise darzustellen. Ich habe darum gar nicht erst versucht, seine Gegenwart zu rechtfertigen. Er ist da, mit allen Problemen, die ein Individuum haben kann, und ich versuche nicht zu beweisen, dass er Detektiv ist. Der ungewöhnliche Aspekt der Handlung ergibt sich nicht aus seiner Arbeit, sondern daraus, dass etwas von außen kommt und ihn zu einer Tat zwingt, die ein normaler französischer Privatdetektiv nicht begeht. Mein Held zieht keine Waffe. Er kann es nicht.“
Eugène Tarpon, von Jean-Francois Balmer ganz einfühlsam diskret und distanziert gespielt, ist ein moderner Philipp Marlowe, der wie ein Schlafwandler durch das düstere, aber (wie schon bei der “Taxifahrerin“) wunderschön fotografierte Paris zieht, mit Leuten zusammenprallt, die meistens eine Nummer zu groß für ihn sind, mit einer begehrenswerten Frau in Kontakt kommt (eine Entdeckung: Sandra Montaigu), die die Intimregeln bestimmt und bei der Typen wie er immer nur verlieren, und von Geschehen und Ereignissen verfolgt und überrollt wird, die er nicht ein einziges Mal positiv oder wenigstens gewinnbringend zu beeinflussen versteht. Dass er nach dieser abenteuerlichen Geschichte um Habgier, Hass, Eifersucht und Mord mit dem Leben davonkommt, ist mehr Zufall. Und es ist auch nicht gesagt, dass die Schusswunde, die er sich eingefangen hat, dabei die schlimmste Verletzung war, die ihm zugefügt wurde…
Seine Mutter allerdings ist nun ganz stolz auf ihren Filius. “Meine Mutter fragte mich, was all die Leute von mir gewollt hätten, und ich sagte: Nichts, Mama, man wollte mich nur daran hindern, zu dir zurückzukehren. Voller Stolz sagte sie zu mir: Na, dann musst du bleiben, Eugène, wenn dich die Leute da so dringend brauchen…“. Und so wird er also weitermachen, wird weiterhin seine Visitenkarten austragen und hoffen und dabei ganz in der Chandler‘schen Absicht weiterexistieren: “Wichtig war mir die korrupte Welt und der Mann, der ehrlich zu sein versucht, und am Ende mit einem sentimentalen oder einfach dummen Gesicht dasteht.“ Wie einst Bogart auch (= 4 PÖNIs).