PÖNIs: (4,5/5)
„NUR EINE FRAU“ von Sherry Hormann (D 2018; B: Florian Oeller; K: Judith Kaufmann; M: Fabian Römer, Jasmin Shakeri; 90 Minuten; deutscher Kino-Start: 09.05.2019); die Wut kommt wieder einmal hoch: Was richten Menschen mit Menschen an. Sogar mit denen aus der eigenen Familie. Im Namen einer hörigen Religion. Im Namen einer unbedingten Tradition. Im Namen eines autoritären, diktatorischen Glaubens. Nur weil eine junge Frau sich daran nicht mehr gebunden fühlt, sich daran nicht mehr halten will, nicht hält, sondern stattdessen ein selbstbestimmtes Leben führen möchte, wird sie gnadenlos, brutal, viehisch attackiert. Getötet. Es ist widerlich. Und wird angemessen unspektakulär-bedeutsam aufgearbeitet. Weil „dies“ nicht fernab von uns geschah, sondern neulich mitten unter uns.
Ihr Name: HATUN SÜRÜCÜ. Hatun wurde am 17. Januar 1982 in Berlin geboren. Sie war die Tochter von Hanim Sürücü und ihrem Ehemann, dem Gärtnergehilfen Kerem (*1940 – †2007). Die Eltern sind sunnitische Kurden aus der ostanatolischen Provinz Erzurum in der Türkei. Anfang der 1970er Jahre siedelten die Eltern nach Berlin um. Acht ihrer insgesamt neun Kinder wurden in Deutschland geboren. Hatun war das fünfte Kind, wuchs mit fünf Brüdern und drei Schwestern in Kreuzberg auf. Als sie 15 Jahre jung ist, wird sie von den Eltern während der Sommerschulferien vom Berliner Gymnasium abgemeldet und nach Istanbul gebracht, wo sie schließlich mit ihrem Cousin zwangsverheiratet wird. Wegen der Brutalität ihres Ehemannes und seiner strenggläubigen Familie flieht sie im April 1999 schwanger nach Berlin. Kriegt hier ihren Sohn Can. Im Oktober 1999 zieht sie aus der engen Wohnung ihrer Eltern in Berlin-Kreuzberg aus, legt ihr Kopftuch ab und findet in einem Wohnheim für minderjährige Mütter Zuflucht. Holt dort ihren Hauptschulabschluss nach und sucht (und bekommt) psychotherapeutische Unterstützung. Sie zieht in eine eigene Wohnung und beginnt eine Lehre als Elektroinstallateurin. Sie beendet erfolgreich die Lehre. Von ihrer Familie, vor allem von einigen ihrer Brüder wird Hatun immer wieder aggressiv beschimpft und bedroht. Dennoch will sie den Kontakt zu ihrer Familie nicht abbrechen und bemüht sich immer wieder, dort akzeptiert zu werden. Am 7. Februar 2005 wird Hatun Sürücü, die sich den Rufnamen Aynur gab, was „Mondstrahl“ bedeutet oder „jemand, der so hell leuchtet wie der Mond“, von ihrem jüngsten Bruder auf offener Straße mit drei Kopfschüssen ermordet. Im Film fällt der Satz: „Die alten Regeln sagen, der Jüngste muss die Reinigung vollziehen“.
SHERRY HORMANN. Die Münchner Filmemacherin, Jahrgang 1960, hat sich vor allem mit zwei Filmen hervorgetan, in denen gepeinigte Frauen im Mittelpunkt standen: „WÜSTENBLUME“ von 2009 (5 PÖNIs/s. Kino-KRITIK), wo es um das Thema Zwangsheirat (in Somalia) und traditionelle weibliche Genitalverstümmelung ging, sowie „3096 TAGE“ von 2013 (s. Kino-KRITIK), wo es um die Entführung der Österreicherin Natascha Kampusch ging. „NUR EINE FRAU“ ist wieder solch ein gewichtiger, emotional ergreifender Spielfilm geworden. Dabei setzt sie hier auf einen wirkungsvollen Kunstgriff: Sie lässt Hatun Sürücü zu uns „sprechen“, gibt der Ermordeten eine markante wie sarkastische Stimme und lässt sie sowohl die Spiel- wie auch die dokumentarischen Szenen aus dem Off kommentieren. Begleiten. „Ich bin tot. Habe ich mir auch anders vorgestellt“, heißt es zu Anfang. Und später, als sie zwangsverheiratet wird: „Sie feiern alle, dass ich meinen Besitzer wechsle. Aus mir, der Tochter meines Vaters, wird die Frau des Mannes“. Während ihre Mutter als Rechtfertigung argumentierend befiehlt: „Männer mögen keine Frauen, die laut werden“.
Hatun Aynur Sürücü. Ein Ehrenmord. Ihre Geschichte und ihr Tod sorgten damals über die Landesgrenzen hinaus für große Empörung, Entsetzen, Wut und eine gewaltige Fassungslosigkeit. Sherry Hormann hat daraus keinen Betroffenheitsfilm geschaffen, sondern: „Wir erzählen sie als Kriegerin, als Kämpferin“. Und: „Wir machen Filme für emotionale Reisen… Dieser Film entführt uns in die Kraft einer Frau. Ich hoffe, dass man sich fragt: Lebe ich, wie ich leben möchte? Lebe ich die Werte, die ich leben möchte? Weiß ich überhaupt, welches meine Werte sind? Der politische Aspekt ist eher das Gehäuse dieses Films, aber die Triebfeder ist immer die Emotion“ (aus einem Interview aus der „Berliner Zeitung“/Ausgabe 4./05.05.2019).
Das Ensemble ist herausragend. Spielt beängstigend „echt“. Zum Fürchten realistisch. Die 1990 in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Schauspielerin ALMILA BAGRIACIK – seit 2017 im ARD-„Tatort“ die Kollegin Mila Sahin des Kieler Ermittlers Axel Milberg – ist als Hatun Aynur Sürücü von beeindruckender, überzeugender, spannender Intensität und sarkastischer Sensibilität.
„NUR EINE FRAU“ ist ein immens nachhallender Film, der SEHR VIEL „UNS“ angeht (= 4 1/2 PÖNIs).