Aus Frankreich kommt wieder ein „Hammer“, bei dem man sich wundert, warum er für hiesige Kinos nicht interessant sein soll. Allerdings irritiert sein deutscher DVD-Titel „Nachtblende“.
Denn mit diesem Titel verbindet sich hierzulande ein französischer Klassiker aus dem Jahr 1975 von Andrzej Zulawski. Damals bekam das „skandalöse Milieu-Drama“ „L`important c`est d ‚ aimer“, mit einer grandios „anderen“ Romy Schneider in der Hauptrolle (die dafür den „Cesar“ als „Beste Darstellerin“ bekam), eben den deutschen (Kino-)Titel „Nachtblende“. Heute also taucht der neue französische Film
„L‘ Homme qui voulait vivre sa vie“, also „Der Mann, der sein Leben leben wollte“,
wieder mit diesem (jetzt DVD-)Titel auf. Keine sehr glückliche Wahl:„NACHTBLENDE“ von Eric Lartigau (Co-B+R; Fr 2010; 115 Minuten; DVD-Veröffentlichung: 1.7.2011).
Es ist – nach „The Trouble with Pamela Rose?“ (2003), „Ein Ticket in den Weltraum“ sowie „Leih‘ mir deine Hand“ (beide von 2006) vierte Spielfilm des heute 47jährigen ehemaligen Assistenten von Edouard Molinaro, Diane Kurys und Emir Kussturica. DER adaptierte den Roman „The Big Picture“ des amerikanischen Schriftstellers DOUGLAS KENNEDY aus dem Jahr 1998, der ein internationaler Erfolg war, in 16 Sprachen übersetzt wurde und in Frankreich unter dem Originaltitel der Verfilmung erschien: „Der Mann, der sein Leben leben wollte“. Dieser Titel ist Programm.
Im Mittelpunkt: Paul, der erfolgreiche Anwalt einer Kanzlei. Da seine Chefin Anne (CATHERINE DENEUVE) erkrankt ist, soll er schon bald die Führung-hier übernehmen. Paul lebt auf der Sonnenseite des Lebens. Mag man glauben. Denn auch privat hat er einiges „geschafft“. Zuhause warten seine schöne Frau Sarah (MARINA FOIS), zwei heißgeliebte Kinder und ein komfortables Haus auf ihn. Alles paletti also? Irgendwie ist von Anfang an eine Art „Unruhe“ zu spüren. Spannungen, Anspannungen, innerhalb der Eheleute. Kleine Gesten, Blicke, Bewegungen lassen vermuten, dass hier keineswegs alles so stimmig ist wie es scheint. Scheinen soll. Auch bei Paul (ROMAIN DURIS), der leicht aus der Haut fährt, schon mal gleich aufbrausend reagiert und bisweilen kurz vor dem hektischen „Explodieren“ scheint. Und dann fällt DER Satz der (Lebens-)Sätze: „ICH ENTSCHULDIGE MICH SCHON MEIN GANZES LEBEN LANG!“
Paul hat sein Leben „gut gefüllt“, mag es aber eigentlich nicht. 100%ig. Hat sich „den Konditionen“ des Seins unterworfen, eine tolle Frau erobert, mit ihr zwei tolle Kinder „fabriziert“, für den gesicherten Erhalt der Familie gesorgt. Hat sich stets „eingebracht“, hat aber auch stets wohl gespürt, dass er seinen eigenen, individuellen, großen Lebenstraum, zum Beispiel sich als Fotograf „zu erfüllen“, eben nicht geschafft hat. Doch was soll´s, die Familie ist allemal „bester Ersatz“. Doch DIE ist nun in Gefahr, weil seine Frau sich von ihm abwendet. Bereits abgewendet hat. Hin zu einem Nachbarn. Einem eher erfolglosen Fotografen. Als Paul ihn zur Rede stellt, passiert ein Unglück. Denn der Nachbar stürzt dabei so unglücklich, dass er sich tödlich verletzt. Was Paul veranlasst, sein komplettes Dasein nach einer kurzen Schockstarre zu ändern. Zu verändern. Sozusagen ein „Entzug“. Ein „Familien-Entzug“. Mit allen Konsequenzen. Fortan…
…entwickelt sich kein Thriller herkömmlicher Art: Großes Geschrei, Polizei, Recherche, Duelle, eine Jagd, Aufklärung, sowohl juristisch wie moralisch…; alles falsch. Fortan begibt sich dieser packende Spannungsfilm auf einen ganz anderen Trip. Und DER soll nun nicht beschrieben werden, denn DEN sollte man sich „antun“. Thema: Die ewige Identitätssuche, der immer wieder auftauchende „eigene Lebens-Käfig“. DER dich einfängt, DER dir Spaß, Zuspruch, aber auch wieder Einengung bringt. DER dich auch wieder nur ganz kurz glücklich werden und zur seelischen Ruhe kommen läßt. Bevor ES wieder losgeht und alles doch wieder in Spannung, Anspannung, „dem üblichen Unterwerfen“ ausartet.
Ich musste bei „Nachtblende“, einem ganz und gar nicht vorhersehbaren, verblüffenden, brillanten Spannungsfilm, des Öfteren an die faszinierende, ebenso unberechenbare wie klassische Patricia Highsmith-Figur des TOM RIPLEY denken. Denn dieser 36jährige ROMAIN DURIS spielt seinen Paul Exben genauso charismatisch, berechnend, psycho-aufwühlend wie einst zum Beispiel der 25jährige Alain Delon jenen Tom Ripley-Draufgänger in „Nur die Sonne war Zeuge“ (von René Clement/1960). Duris ist präsent, ohne sich dabei aufzudrängen. Duris ist „wild“, ohne den Spinner oder den unkontrollierten aggressiven Idioten zu mimen. Ganz im Gegenteil: Er schafft die Balance zwischen einem bürgerlich-genormten Menschen, der für sich von einem Moment auf den anderen entscheidet, tatsächlich sein ganz eigenes Lebens-GLÜCK zu suchen, zu versuchen. Und dabei Schicksalswege einschlägt, betritt, die natürlich risikoreich, aber dann auch bestätigend sind. Wenigstens für Momente. Um dann…
An ROMAIN DURIS, am 28. Mai 1974 in Paris geboren (Sternzeichen Zwilling also), „hängt“ alles. Der auch bei uns durch Filme wie „Gadjo Dilo“ (1997), „L‘ auberge espagnole – Barcelona für ein Jahr“ (2002), „Der wilde Schlag meines Herzens“ von Jacques Audiard (2005), „L‘ auberge espagnole – Wiedersehen in St. Petersburg“ (2006) sowie „Afterwards“ (bei uns auf DVD: „Ein Engel im Winter“/2008) und zuletzt „Der Auftragslover“ (2010) bekannt gewordene Charles Bukowski-Fan ist hier die personifizierte spannende Unruhe. Wirbelt charismatisch-kräftig wie sensibel-unterkühlt seinen Sinn-Sucher und Ich-Strategen über seine vielen Hürden. Duris überzeugt phänomenal. Strahlt Güte wie Starrsinn, Eigenbrödler wie „Macker“ glaubwürdig ‚rüber. Ist fast in jeder Szene „vorhanden“ und „betört“ durch Neugier, Anteilnahme, glaubwürdige Psycho-Tiefe. Eine tolle Performance eines wirklich außergewöhnlichen Schauspielers. DER auch bei uns die Leinwand prächtig füllen würde. Diesmal aber ist es „nur“ DIE vom Heimkino: „Nachtblende“ ist ein exzellentes französisches DVD-Unterhaltungsangebot.
Anbieter: „Universum Film“