PÖNIs: (4/5)
„MIDSOMMAR“ von Ari Aster (B + R; USA/Schweden 2018; K: Pawel Pogorzelski; M: Bobby Krlic als „The Haxan Cloak“; Schnitt: Lucian Johnston; 147 Minuten/Kinoversion; 171 Minuten/Director`s Cut; deutscher Kino-Start: 26.09.2019).
Gastkritik von Caroline „Carrie“ Steinkrug
Verstörend. Ist das erste Wort, das einem zu diesem Film einfällt und auch das, was noch Tage danach diesbezüglich nachhallt. Der 33-jährige, in New York geborene Autorenregisseur Ari Aster wurde 2018 durch seinen ersten Dämonen-Gruselhit „Hereditary – Das Vermächtnis“ berühmt. Schon dort erregte eine bizarre Inszenierung das Aufsehen der Kinogemeinschaft, indem sie schockierende Bilder hervorbrachte und mit Genre-Erwartungen spielte. Der Name „Ari Aster“ galt in der Weltpresse ab sofort als neue Horrorfilmhoffnung, in persona eines Film-Visionärs, der eine sehr eigenbestimmte Handschrift führt sowie einen modernen Angststil zelebriert: schön, untergründig und zugleich „mitten in die Fresse“. Auf Arthaus-Art.
Kein Wunder also, dass nach so vielen Lorbeeren sein zweites Werk dringlich erwartet wurde. Die USA legten bereits am 3. Juli 2019 mit dessen Kinostart vor. Diese Woche gelangt MIDSOMMAR dann endlich auch in unsere Lichtspielhäuser. Als 147 Minuten (im Director`s Cut: 171 Minuten) langer (Rauschmittel-)Trip, der durch seine ruhige Erzählweise einlullt, um schließlich in einem jähen Erwachen zu enden: Was zur Hölle ist da gerade passiert???
Dani (FLORENCE PUGH) ist nach einem harten Schicksalsschlag stark gezeichnet. Psychisch krank. Ein Zustand, der vor allem für ihren Lebenspartner Christian (JACK REYNOR) kaum noch haltbar ist. Dennoch entschließt er sich aus Mitleid dazu, sie auf eine Reise nach Schweden mitzunehmen, die eigentlich ursprünglich ein reiner Männerausflug werden sollte. Sein Kumpel Pelle (VILHELM BLOMGREN) möchte der amerikanischen Clique nämlich stolz sein Heimatland präsentieren. Mit „Haut und Haaren“, kulturellen Differenzen und dem berühmten „Midsommar“, einem Fest anlässlich der Sommersonnenwende. Einer Jahreszeit, in der es kaum dunkel wird. Moment: kaum dunkel wird? Kann denn ein Gruselszenario ohne Dunkelheit überhaupt funktionieren? Antwort: Oh ja! Denn diese festliche Dorfgesellschaft, in die die Protagonisten fortan geraten, hat mächtig einen an der Klatsche: Kultur-Kluft? Fanatischer Glaube? Oder gar: Kult-Sekte? Das ist hier die Frage…
…welcher Ari Aster mit seinem Team nachgeht. Denn: Die Verbindung aus Montage, Schnitt (bravourös: LUCIAN JOHNSTON!) und Musik m u s s herausgestellt werden. Gehört nicht zum gängigen Kinohandwerk. Wie es sonst praktiziert wird. H i e r arbeiten Meister ihres Fachs, die gelernt haben, mit den Erwartungen der Zuschauer zu spielen. Sie zu falschen Annahmen zu verführen. Ihnen die emotionale Sicherheit des „Tages“ zu rauben, weil jetzt dort der Terror stattfindet. Und nicht mehr in der finsteren „Nacht“. Deren (Farb-)Töne Eigenleben besitzen, statt nur Untermalung in zweiter Reihe zu sein. Deren (Schnitt-)Wechsel die Wahrnehmungsebenen verschieben. Sie verwirren und wie eingangs erwähnt: nachhaltig irremachen.
Im Anschluss an eine deprimierende Ouvertüre, die den Suizid von Danis Angehörigen zeigt, der in schwarze Bilder getaucht und mit kreischenden Geigen untermalt ist (der Score von BOBBY KRLIC geht durch Mark und Bein), kippen die Aufnahmen des Kamera-Virtuosen PAWEL POGORZELSKI plötzlich in das gleißende Lichtspektakel eines romantischen Reigens mit Heimatfilm-Motiven, innerhalb einer feenhaften Landschaft. Bezaubernde Farbenspiele auf „Leinwand“, in denen mit Blumenkränzen behütete Mädchen über saftige Wiesen und hübsche Auen schweben. Dem Nährboden einer solidarischen Kommune. Im Einklang mit der Natur und sich. Allesamt weiß gekleidet. Die pure (Lust-)Unschuld, umgarnt von einer bezirzenden Harmonie. Die radikal endet und sich prompt in ein Kabinett der perversesten Skurrilität verkehrt: (Gruppen-)Sex, Drogen, Mord, Inzest, Verstümmelung, Kannibalismus, Blutorgien … Körpersäfte und Innereien überall! Die ganze Palette eines unmenschlichen (Religion-)Daseins, in dem schließlich Dani neuen „Halt“ findet. Zuvor durchlebt sie aber, gemeinsam mit uns, im strahlenden Sonnenschein die grausamsten Momente. Umgeben von den Gesetzten einer Welt, in welcher der Tod, egal wie gewaltvoll er auch in der Brutalität nordischer Mythen auftritt, als Erlösung, ja fast schon als Ehre gilt.
Diesen Tanz der engelsgleichen Teufel taktiert die britische 23-jährige Hauptdarstellerin FLORENCE PUGH („Lady Macbeth“) eindrucksvoll und ruft dabei fast die gesamte Palette des emotionalen Mienenspiels ab, welches ARI ASTER als obskurer „Riten-Intendant“ auf- und anführt. In Szenen, die ständig die Grenzen von Erträglichkeit, Kunst oder psychischen Qualen ausweiten, nur um das so hervorgerufene Entsetzen anschließend wieder in einem wunderschönen Filmportrait zu verschleiern. Bis es erneut schonungslos hervorbricht. Brüche, noch und nöcher. Am Rande des Wahnsinns. In Ästhetik und Empfindungen eines blütengeschmückten skandinavischen Folk-Alptraums. Selbst in komischen Elementen, die zeitweise zu einer zusätzlichen Desorientierung innerhalb der Seh- beziehungsweise Hörgefühle führen. Können.
MIDSOMMAR ist ein Film, den man gleichzeitig liebt und hasst. Dem man noch ewig nachspürt. Nicht vergessen kann. Wird. Der die eigenen Gedanken schwängert. Durch erschreckende Abnormitäten. Und allem darüberhinaus. Der das obskure Panoptikum des eigensinnigen Regisseurs weitererzählt, leider nicht ganz (in seiner Gesamtwirkung) an sein Meister-Debüt „Hereditary“ heranreicht, aber dennoch wunderschöne, filmische Traummalereien präsentiert, die nichtsdestotrotz jenen verschlossen bleiben „sollten“, deren Gemüt zu „sensibel“ ist. Diese Menschen seien ein letztes Mal deutlich gewarnt: Was Sie hier sehen und hören werden, hat eine verstörende Wirkung! Vor allem in Hinblick auf den nächsten IKEA-Besuch (= 4 „Carrie“-PÖNIs).