„LIEBER KARL“ von Maria Knilli (Co-B+R; BRD/Ö 1984; 89 Minuten; Start D: 12.07.1985). Der Typ sieht aus, als pfeife er auf dem letzten Loch. Mager, dürr, außen wie innen. Das Sprechen scheint wie das Essen auch nicht zu seinen Stärken zugehören. Dafür kotzt er dann ab und zu das aus, was ihm seine Mutter mit viel Liebe und noch mehr Worten zubereitet hat. Karl heißt er, und wenn er doch dann mal etwas sagt, fallen ihn nur selten die richtigen Gedanken und Wörter ein. Ist Karl ein richtiger Junge von heute? Karl May hat er nie zur Kenntnis genommen und das Cowboy- und Indianerspielen der Kinder- und Jugendzeit ist ihm fremd. Karl, ein Sonderling. Ein Einzelgänger, der dafür Kinderbücher verschlungen und sich sonst meistens aus allem rausgehalten hat. Karl ist das typische Kind seiner Eltern, Die, der Vater ein Papierwaren- und Leihbuchhändler, die Mutter, eine gealterte sich ungeliebt fühlende und ihre ganze Kraft in die „Liebe“ ihres Sohnes steckende Hausfrau, wollen mit aller Macht und Gewalt, dass aus Karl mal etwas “wird“. Also drängeln sie ihn, drangsalieren ihn, bevormunden ihn und engen ihn ständig ein. Pauken muss er, bis es ihm buchstäblich aus dem Halse raus kommt. Essen soll er, wie der Hänsel im Grimm-Märchen, damit er groß und stark wird und im Leben was Besseres wird und überhaupt – bestehen kann. Die eigenen Unzulänglichkeiten, die kleinbürgerliche Enge und Zwänge werden auf den Sohn transportiert, auf dass es dem einmal “besser“ gehen und der viel mehr vom Leben “haben“ soll. Aber Liebe kann ersticken, kann tot machen, kann zu Vereinsamung, kann zu innerem Elend führen. KARL lässt alles widerspruchslos mit sich geschehen. WARUM SCHAFFEN SICH LEUTE KINDER AN? Damit sie wenigstens funktionieren, damit sie wenigstens nicht so bedürftig sind und schwach und lebensuntüchtig und fad und spießig. Kinder als Reflektoren, als menschliche Roboter, als Wurmfortsätze, die bloß keine eigene Identität annehmen und etwa ausbrechen dürfen, “anders“ werden als beabsichtigt. Das würde die Verwirrungen, Enttäuschungen an und in sich nur noch steigern. DROHUNGEN: Du rührst dich nicht von der Stelle bis alles aufgegessen ist (Vater). Mutter flennt dafür. Nachts im Bett redet er sich ein: Ich hab‘ Hunger, ich hab‘ Hunger. Der Film zeigt diesen Druck durch die bekannten Äußerlichkeiten, stummen Ritualen. Türen klappern besonders laut, die Gebärden der Erwachsenen wie “falsche“ Zärtlichkeiten, kurze, abgehakte, bedrohliche Sätze, der Muff drum herum. Dunkle Räume, hänselnde Mitschüler. Dann DER ERFOLG. Das ABI. Aber auch jetzt: zu Hause keine Berührungen, keine Zärtlichkeit, keine Streicheleinheiten, die man jedem Hund, jeder Katze, aber bloß nicht dem Sohn gibt. Bloß keine offenen Gefühle aufkommen lassen. Zum Erfolg verdammt, beginnt Karl mit dem Studium. Und auch hier wieder die gleichen Symptome, dieselben Rituale. Jeder Hausköter würde mehr Berührungen, Streicheleinheiten, Ermunterung erleben. Ihn aber stellen sie wie einen Roboter an und wundern sich nur manchmal über seine Funktionsstörungen. Zum Beispiel als Hilde auftaucht. Unbekümmert entdeckt sie ihn, nimmt ihn zu sich mit ins Bett. Ist zärtlich zu ihm. Karl ist aufgewühlt, lässt sich zum ersten Mal in seinem Leben gehen, taucht für einen Moment unter in dieser Welt aus Bedrohung und Druck, ist plötzlich er selbst. Aber Eltern und Polizei bringen ihn schnell wieder von seinem Luftschloss herunter auf die Erde, in den heimatlichen Bungalow. Ausflüchte sind nicht erlaubt, Eigenmächtigkeiten nicht gestattet. Karl, du sollst es doch mal besser haben… Am Ende verbrennt Karl den Abschiedsbrief von Hilde. Dazu bedeutungsschwangere Klaviermusik. Die Bücher um ihn herum scheinen mit zu verbrennen. Er auch? Erlösung durch Selbstmord? Oder endlich radikaler Ausstieg? Die Regisseurin, die auch ihre Autorin ist, lässt es offen, will sich nicht festlegen. Traute sich wohl noch nicht bei ihrem Debüt, eine klare Position zu beziehen. Aber vielleicht hören wir mal wieder von ihm…?! |
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