KINO, das bedeutet bekanntlich auch: Bilder hinter den Bildern. Zunächst also das, was wir sehen, und dann das, was darüber hinaus zu denken, fühlen, zu interpretieren ist. Dort, wo sich Kunst und Realität paaren. Ein typisches Beispiel dafür ist der Film„DIE LIEBENDEN VON PONT – NEUF“ von Leos Carax (B+R; Fr 1991; 125 Minuten; Start D: 02.07.1992).
Der Grund: Dieser faszinierende, großartige Film, übrigens mit 120 Millionen Franc die teuerste französische Produktion aller Zeiten, erzählt viel von dem, was wir nicht unmittelbar sehen, aber ständig empfinden. “Die Liebenden von Pont – Neuf“ ist der erste ernstzunehmende Film der 90er Jahre. Stand in den 60ern die Revolution, in den 70ern die Flower-Power-Anarchie und in den 80ern das Geld im Mittelpunkt von Gesellschaft und also auch Kino, heißt es jetzt, bittere Bilanz zu ziehen. Einige haben GELD gemacht, besitzen Reichtum und Macht, viele andere sind in die Anonymität geflüchtet. Sind gescheitert, abgedriftet: Sammelware für die Sozialstationen. So wie Alex. Er ist 28 und kaputt. Er ist beschädigt an Leib und Seele. Für das eine hilft der Gipsverband, für das andere der Alkohol. Alex hat sich auf eine Brücke verkrochen, auf d i e Brücke, auf seine Brücke: die Pont – Neuf. Sie ist die älteste Brücke von Paris und verbindet nicht nur die Ufer der Seine, sondern auch die Viertel von Paris. Ein Paradestück der Kommunikation, das gerade renoviert wird.
Alex wird hier von Hans “betreut“, einem alten Clochard, der ihn regelmäßig mit Ampullen versorgt. Denn Alex hat den Schlaf verloren. Er ist zu viel wach und deshalb verrückt. Nur die Chemie lässt ihn manchmal vorübergehend in das Vergessen fallen, ansonsten ist er wach, wütend und leer. Michéle taucht auf. Sie wird bald erblinden, deshalb malt sie umso heftiger und verzweifelter. Man kommt zusammen und doch nicht nah. Denn ER hat längst aufgegeben: Glaubt nicht mehr an die Worte, die der Berührung folgen.
“Die Liebenden von Pont – Neuf“ handelt von der Panik und Resignation in unserer Welt. Und doch: Zugleich geht es um den ewigen Versuch von Vertrauen, Liebe, Betäubung und… geht es auch um das selbstverständlich gewordene Spiel mit dem Tod, der allgegenwärtig scheint, Leos Carax heißt der 28jährige Autor und Regisseur. “Die Liebenden von Pont – Neuf“ ist der dritte Film dieses rebellischen Poeten. Er ist ungeheuerlich. Ungeheuerlich deshalb, weil er sich jedweder Standardmuster enthält. Seine Bilder machen süchtig in ihrer Schönheit, Bitterkeit, Radikalität. Carax interessiert sich nicht für irgendeinen Konsum-Geschmack, für herkömmliche Erzählmuster. Entweder man ist bereit in seine Bilder-wucht und -wut einzutauchen, um diese impulsive, unschuldige Poesie eines weisen, 28jährigen Clowns aufzunehmen, oder man bleibt draußen…unberührt, genervt, belästigt.
Für mich ist dieser Film eine wunderbare Besessenheit. Ich bin begeistert über so viel Vitalität und über den atmosphärischen, tiefen Durst nach neuen Bildern, Gedanken und Gefühlen, Bewegungen. “Die Liebenden von Pont – Neuf“ von Leos Carax, das sind Emotionen-total oder, wie man so schön sagt: Ein absoluter Muss-Film (= 5 PÖNIs)!