„KEOMA – MELODIE DES STERBENS“ von Enzo G. Castellari (Co-B + R; Italien 1976; Co-B: Nico Ducci; K: Aiace Parolin; M: Guido & Maurizio De Angelis; Texte: Susan Duncan-Smith und Cesare De Natale; 97 Minuten; Start D: 27.1.1977).
Halb verfallene Holzhütten, der Wind heult durch die Ritzen, wo man hinblickt, nur Staub und Sand und Asche, eine düstere bedrohlich wirkende Szenerie. Irgendwo das hämmernde Geräusch einer anhängenden Tür, eine Alte wühlt in der dreckigen Erde herum. Ein Mann kommt in diese Endzeitlandschaft geritten.
„Keoma“, brüllt ihn die Alte an, „Keoma, warum bist du zurückgekommen?“. „Weil es auf der Welt nur wenige Dinge gibt, die zählen. Die Heimat und die Menschen, die man liebt“. „Du irrst dich“, kreischt die Alte. „Du liebst diese Menschen vielleicht, aber sie lieben dich nicht. Auch wenn du ihnen, wo du konntest, geholfen hast. Und für sie gekämpft hast. Geh‘ nicht zurück. Hast du noch nicht genug vom Töten?“ „Wenn Du auftauchst, bedeutet das den Tod“, antwortet der Mann auf dem Schimmel. Und: „Die Welt ist schlecht!“. Und reitet weiter.
Die Musik setzt mit dem Vorspann ein. Und es ist eine ganz besonders emotionalisierende Musik. Moritatenähnlich wird sie die Bilder des Films ständig begleiten und sie aufputschen oder beruhigen wie in der Opernarena. Die Brüder Guido und Maurizio de Angelis haben sie in der Tradition Ennio Morricones („Spiel mir das Lied vom Tod“) komponiert und arrangiert.
Die kleine Stadt wird von einem ehemaligen Oberst namens Caldwell beherrscht. Er hat sich nach dem Kriege mit seinen Leuten hier niedergelassen und terrorisiert die Gemeinde. Keoma rettet einer jungen Frau das Leben. Sie wollten sie in den Bergen aussetzen, weil sie angeblich die Pocken hat. „Willkommen zu Hause“, wird Keoma vom Vater begrüßt. „Wo warst du?“ „Ich war im Krieg“. „Und wer hat gewonnen?“ „Ich war auf der Seite derer, die gewonnen haben“.
Keoma hat überlebt, weil er immer noch der schnellere und bessere Schütze ist. „Was hat das alles für einen Sinn gehabt, Vater? Weshalb dieser dauernde Kampf?“ „Die Frage kann ich dir auch nicht beantworten. Vielleicht wollten wir, nachdem wir die Indianer verjagt haben, beweisen, dass wir auch ‚großzügig‘ sein können. Und da haben wir den „Negern“ die Freiheit gegeben. Jetzt können wir stolz auf unsere Menschlichkeit sein. Und wieder anfangen zu töten“.
1976 war die Zeit der Western, präziser: des Italo-Western, fast vorüber. Alle Geschichten waren erzählt, alle Brutalitäten ausgebreitet, das Genre war durch die zahllosen drittklassigen Kopien ausgeblutet und ausgebrannt. Enzo G. Castellaris Film ist so etwas wie der Abschied. Aber was für einer! „Halbblut Keoma kehrt aus dem Krieg zu seinem Vater, den missgünstigen Stiefbrüdern und in eine verrottete Gesellschaft und fühlt sich angesichts der vielen toten Seelen und kranken Leiber aufgerufen, als leidender und kämpfender Heiland die Welt zu retten“, annonciert Jo Hembus in seinem „Western-Lexikon“. Und Hans C. Blumenberg damals in der „Zeit“: „Diese wahnwitzige Kombination aus Kafka und Freud, Shakespeare und italienischer Oper ist fast eine Hommage an Giulio Questis „Töte Django‘ (der neulich auch Kino-Wiederaufführung hatte): schwankend zwischen Abstrusität und Absurdität.
Der Showdown. Keoma, ans Rad geschlagen, wird von der jungen, hochschwangeren Frau befreit. In den Bergen kommt es zum Finale. Keoma gegen seine drei Stiefbrüder, die die Macht an sich gerissen und die Marionette Caldwell getötet haben. Während die Frau ihr Kind bekommt und ihre Schreie durch die Gegend hallen, jagen sich die Männer. Der letzte Schuss endet mit dem letzten Schrei der Frau. Dann das Kindergebrüll. „Lass ihn nicht allein, verlass ihn nicht. Er wird sterben ohne dich, er braucht dich“, schreit die Alte dem fortreitenden Keoma zu. „Du irrst dich. Er braucht mich nicht. Er ist ein freier Mensch. Und wer frei ist, braucht nichts“, antwortet der und reitet fort (= 5 PÖNIs).
„KEOMA – MELODIE DES STERBENS“ von Enzo G. Castellari (Co-B + R; Italien 1976; Co-B: Nico Ducci; K: Aiace Parolin; M: Guido & Maurizio De Angelis; Texte: Susan Duncan-Smith und Cesare De Natale; 97 Minuten; Start D: 27.1.1977; DVD-Veröffentlichung: 16.12.2003); selten wurde in der Geschichte des Films ein Kinofilm dermaßen “massakriert“ und indiziert wie dieser. Dessen Qualitäten lange Zeit(en) unbeachtet blieben, weil damals ein kleiner Verleiher sich nicht gegen die Allmacht von Kirche und FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) durchsetzen konnte. Der Film, der zwischenzeitlich mit 4 Filmtitel bedacht wurde, ist jetzt “de-indiziert“ und in voller kinematographischer DVD-Pracht zu erleben.
Halbblut Keoma (FRANCO NERO) kehrt aus dem Bürgerkrieg zu seinem Vater, den missgünstigen Stiefbrüdern und in eine verrottete Gesellschaft zurück. Und fühlt sich angesichts der vielen toten Seelen und kranken Leiber aufgerufen, als leidender und kämpfender Heiland die Welt zu retten.
Wahnwitzige Kombination aus Kafka und Freud, aus Shakespeare und italienische Oper, die zwischen Jesus-Bild und Possenspiel absurd und brutal hin- und herschwankt. Faszinierender Italo-Western-Abgesang; mit einer phantastischen Musik-Dramaturgie (Guido + Maurizio de Angelis), die an Morricones Wucht und Ästhetik erinnert.
Ein (be-)deutungsvolles, stimmungsvolles “vergessenes“ Meisterwerk! (= 5 PÖNIs).