KEHRAUS

PÖNIs: (5/5)

14.2.2021: Wenn Man(n)/Frau nicht „draußen“ Fasching feiern können, dann doch wenigstens – im Kino. Ach, auch diese Verlustigungsstätte ist ja derzeit geschlossen, also  –  lautet das Kommando: hau Dich vor die Glotze und schaue Dir einen wirklich starken deutschen Satire-Ironie-Possen-Film an, dessen BRD-Lichtspielhaus-Premiere am 11.11.(!) 1983 stattfand. Nachfolgend meine damalige Kritik fürs TIP-Magazin 23/83 (Ausgabe vom
4.11.- 17.11.83). Überschrift: DEUTSCHLAND IM FASCHING:

„KEHRAUS“ von Hanns Christian Müller (Co-B, R und Musik; BRD 1983; B: Gerhard Polt; Carlo Fedier; K: James Jacobs; Karnevals-Hit: „Ich bin ene Vampir“/“Höhner“ von 1982; 88 Minuten; BRD-Kino-Start: 11.11.1983);

Man muß ihn live erleben. Wie er geht, wie er seinen etwas korpulenten Körper unsicher, manchmal scheinbar hilflos über die Bühne, über die Straße, durch die Gänge der riesigen Korridore eines noch riesigeren Versicherungskonzerns oder auch durch die Wirtshausstube schiebt und dabei nach Worten schnappt, sie endlich findet, um mitten im Satz ein zuhalten, fragend ins Publikum schaut, das sich inzwischen vor Lachen kaum noch einkriegt – er ist eine gelungene Mischung aus Werner Finck  und Karl Valentin, hat’s faustdick hinter den Ohren und ist seit Jahren einer der Besten aus der Kabarett- und Kleinbühnen-Szenerie: GERHARD POLT, Münchner, Jahrgang 1942, Autor, Schauspieler, Regisseur, Übersetzer, das „böse Ebenbild des Menschen ebenso wie ein „intellektueller Sozialkritiker („Spiegel“), der „dem lieben Nachbarn, und wir alle sind Nachbarn, aufs Maul und geradezu ins Hirn“ schaut („Münchner Abendzeitung“). Jetzt hat er seinen ersten Kinospielfilm gemacht.

Gerhard Polt spielt, besser: ist der Münchner Gabelstaplerfahrer Ferdinand Weitel, den die Freunde gerne Ferdl schimpfen und der gerade beschlossen hat, sich gegen alle Wechselfälle des Lebens zu versichern. Zu diesem Zweck hat sich in seiner engen, kleinen Küchenwohnstube mit Aquarium und Mini-HiFi-Anlage der Vertreter Herr Arno von Mehling (NIKOLAUS PARYLA) eingefunden. Dieser Herr versteht sein Geschäft und darf gleich sieben Verträge auf der Haben- und Provisions-Seite verbuchen: „20.000 Mark Versicherungssumme, einfach toll! Eine Kiste fällt ihnen auf den Kopf – ein ausgelaufenes Auge, ein steifer Arm, und Sie sind ein gemachter Mann!“ Ferdinand ist’s zufrieden, endlich gegen derartige Schicksalsschläge gewappnet zu sein. Aber, Augenblick mal, wozu eigentlich der Schutz gegen Sturm- und Wasserschäden? Er ist schließlich kein Hausbesitzer, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Wohnungsmieter, der zur Zeit, bei Kurzarbeit, mit einem Monatseinkommen von 1.680 Mark auskommen muß? Und jetzt soll er alleine für diesen ganzen Versicherungskram fast 700 Mark monatlich hinblättern? Ferdinand Weitel beschließt, sofort etwas zu unternehmen. Schon am nächsten Tag begibt er sich zur Versicherung, bedenkt aber nicht, daß Faschingsdienstag ist. Die Belegschaft verspürt keine Lust, sich mit ihm zu befassen, und der Herr von Mehling läßt sich verleugnen. Aber Polt, Pardon, Ferdinand, läßt sich nicht so einfach abwimmeln, und so schickt man den Quälgeist in den höchsten, den 13. Stock, wo gerade der Vorstand des Konzerns tagt und bei exquisitem Imbiß die künftigen Einsparungen beschließt. „Ein kleiner heilsamer Schock dürfte sich eher vitalisierend auswirken auf den Rest der Abteilung“, äußert sich ein Dr. von Rüden (Hans Günther Martens) zwischen zwei Krabbenhappen, während Dr. Berzelmeier, der Super-Manager (DIETER HILDEBRANDT), vorschlägt, nach Einrichtung des Rechenzentrums den fünften Stock räumen zu lassen: „Wir müssen diese Kündigungen vornehmen, gerade um Arbeitsplätze zu erhalten“. Natürlich sind die Vorstandskollegen derselben Meinung und im übrigen  für jede Abwechslung dankbar. Man sieht „fern“, und zwar ganz nah. Denn in jedem Zimmer des Hauses sind Kameras und Mikrofone  versteckt, die ein konkretes Bild von der Arbeits- und Privatmoral der Angestellten vermitteln: „Die Kameras sind geschmackvoll in die Decke integriert“, freut sich der zufriedene Haus-Video-Techniker, während Dr. Berzelmeier pointiert zu ergänzen weiß: „Ja, ja, der Japaner schläft nicht“.

Ferdinand Weitel auch nicht. Den haben sie wieder in die unteren Etagen befördert, wo Sekretärin Annerose Waguscheit (GISELA SCHNEEBERGER) Herz zeigt und ihm den Besuch des abendlichen Balles empfiehlt, wo er Herrn von Mehling garantiert treffen kann. Gesagt, getan. Ferdinand nimmt am Abend am „Traumpolice Ball“ teil, und was er dort alles erlebt, was da an bayerischer Fröhlichkeitrüberkommt und wie sich DIE noch steigert, als die Kündigungen bekannt werden, das zeigen die immer lauter und zugleich immer bissiger, böser und brutaler werdenden bunten Bilder dieses Films, der schon lange nicht mehr nur das Zwerchfell strapaziert.

„Ich würde das den Poetischen Realismus nennen“, äußert sich Dieter Hildebrandt in einem Interview über „KEHRAUS“. „Dieser Film hat die Poesie, die Abfall-Poesie, die Dreck-Philosophie und kommt damit dem Alltag wahnsinnig nahe. Es ist ein sehr kämpferischer Film, weil er zeigt, mit welchem Ernst die Personen ihre Hoffnungslosigkeit überleben. Das finde ich grandios“. Er spielt den Dr. Berzelmeier  – wie konnte er sich eigentlich mit dieser Rolle zurechtfinden?: „Ich bin schon oft mit diesen typischen Flugzeugen für Manager geflogen, manchmal zwei, drei Wochen lang jeden Tag  – Frankfurt und zurück. Und Frankfurt ist die Stadt, wo man sie beobachten kann. Ich kenne die Frühmorgen-Gesichter und auch die Abend-Gesichter, wenn sie wieder zurückfliegen. Ich brauchte deshalb für die Rolle des Dr. Berzelmeier nicht mehr viel zu tun. Ich habe ihn aus meiner Erinnerung geholt. Ich kenne die Einstellungen solcher Menschen. Ich weiß, mit welcher Gelassenheit sie über menschliche Tragödien hinwegsehen können, wenn es sich für sie um Zahlen, Statistiken handelt“.

Gerhard Polts Lieblingsfilm, einer von ein paar, ist „Der Feuerwehrball“ von Milos Forman, ein tschechoslowakischer Spielfilm von 1967, in  dem präzise und hinterfotzig-liebevoll Dorfcharaktere beschrieben werden. „KEHRAUS“ geht ähnlich vor, entwickelt scheinbar ganz eigenwillige, schräge Charaktere, über die man lachen kann, bis man entdeckt, daß sie mit einem selbst zu tun haben. „Kehraus ist so etwas wie ein abendfüllender Volks-„Scheibenwischer“, der einfühlsam und scharf Menschen und Milieu beschreibt und beobachtet. Fazit: So deutlich zu treffend ist in einem deutschen Film in jüngster Zeit selten dem Volk aufs Maul geschaut worden. Auch wenn am Ende ein bayerisch-zwischenmenschliches Happy-End versucht wird („Es ist wichtig, daß es nochmal menschelt“, sagt Polt) ändert das nichts. Vergleiche mit Robert Altmans „Nashville“, natürlich in viel bescheidenem Rahmen – schließlich standen nur 1,7 Millionen Mark zur Verfügung – drängen sich auf. Nashville heißt diesmal Bayern, und Bayern liegt in der BRD: Die Beschreibung des ganz normalen Wahnsinns in diesem Lande. Irgendein praktisches Rezept dagegen, Herr Polt?: „Ich sage immer, wenn schon, dann vital resignieren“, kontert er beim kurzen Wirtshaus-Gespräch (= 5 PÖNIs).

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