„DIE KARTE MEINER TRÄUME“ von Jean-Pierre Jeunet (Co-B + R; Fr/Kanada 2012; Co-B: Guillaume Laurant, nach dem gleichnamigen Roman von Reif Larsen; K: Thomas Hardmeier; M: Denis Sanacore; 105 Minuten; Start D: 10.07.2014); ER dreht nicht sehr oft, weil er viel Zeit für die Herstellung (s)eines Films benötigt, aber wenn, dann ist allerhöchste Neugier angezeigt.
Der heute 60jährige Franzose JEAN-PIERRE JEUNET zählt zu d e n Filmemachern, die eine überragende künstlerische Handschrift besitzen und in deren Werken sich stets herrlich skurrile Figuren und spannende exzentrische Charaktere einfinden. Versammeln. Mit denen dann der Regisseur allerlei „verzückende Bewegungen“ anzustellen weiß. Filme wie „Delicatessen“, „Die Stadt der verlorenen Kinder“, natürlich „DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE“, „Mathilde“ und „Micmacs – Uns gehört Paris“ bildeten allesamt einen tragikomischen Kosmos, geprägt durch diese imposant ausgeprägte inszenatorische Gestaltungskraft eines wunderbar Phantasie-geprägten Jean-Pierre Jeunet. Dessen Emotionalität außergewöhnlich erscheint.
„The Selected Works of T.S. Spivet“ ist der erste Roman des amerikanischen Schriftstellers Reif Larsen. Erschien 2009 und kam hierzulande im selben Jahr unter dem jetzigen deutschen Filmtitel heraus. Im Blick- und ständigen Mittelpunkt des Romans wie des Films: Der 10jährige T.S. Spivet, mit vollen Vornamen Tecumseh Sparrow (KYLE CATLETT), aus Montana. Er lebt dort auf einer Farm. Seine Eltern sind sicherlich DAS, was man unter „kauzig“ versteht. „Sind“ wie Tag und Nacht. Feuer und Wasser. Die versponnene Mama, die er Dr. Clair nennt (HELENA BONHAM CARTER), ist Expertin für Grashüpfer und Insekten im Allgemeinen.
Der Vater (CALLUM KEITH RENNIE) scheint ein Jahrhundert zu spät geboren zu sein, ist mit Leib und Seele Cowboy alter Schule. Repariert Zäune. Versteht mehr von Pferden und Ziegen als von Menschen. Trinkt natürlich gerne Whisky. Reden ist für ihn eine lästige Pflicht. Wenn er doch mal ein paar Worte verliert, schaut er sein Gegenüber dabei nie direkt in die Augen, sondern blickt viel lieber gen Horizont. Drei Kinder: T.S., der völlig aus der Familien-Art geschlagen ist; Zwillingsbruder Layton, ein eifriger Jung-Cowboy, der gerne auf alles schießt, was sich draußen bewegt, und die ältere Schwester Gracie, die gerne in die Großstadt ziehen möchte, um Schönheitskönigin zu werden. Eine sehr eigene Gemeinschaft. Gelinde formuliert.
Deshalb kriegen sie auch gar nicht mit – oder wollen es auch gar nicht zur Kenntnis nehmen -, dass T.S. ein Genie ist. Trotz seiner unterschiedlichen Socken an den Füßen. DER mit seinen zehn Lebensjahren bereits mehr weiß als viele Zig-Jahre-Ältere nicht. Wenn T.S. nicht gerade seinen Klassenlehrer bis zur Weißglut mit seinem überragenden Wissen nervt, ist er ununterbrochen damit befasst, Diagramme und Landkarten zu zeichnen. Als er dem Smithsonian Institut in Washington seine Entwürfe mit einem magnetischen Perpetuum mobile, das 400 Jahre lang laufen soll, schickt, wollen DIE ihn kennenlernen. Und mit ihrem renommierten Wissenschaftspreis auszeichnen. Nicht ahnend, dass sie es mit einem 10jährigen „zu tun“ haben. Also macht sich der Junge allein auf den Weg. In die Zivilisation. Was soll er auch den ignoranten Erwachsenen erklären? Zudem – er sieht diese Tour auch als Buße-Weg. Für seinen verstorbenen Bruder, der beim Spiel mit Vaters Waffe tödlich verunglückt ist und für DAS sich T.S. Mitschuld gibt. Zudem kann er nun endlich solch dringende Fragen wie „Wie kann es sein, dass der Mensch so viele rechte Winkel baut, wenn sein Verhalten doch so unlogisch ist?“ vielleicht klären.
Natürlich ist es ein „komischer Weg“. Oder kurioser Weg. Der kleine Junge mit dem großen Koffer inmitten „On the Road“. Gen Osten. In einer mitunter atemberaubend schöne Landschaft. T.S. atmet durch, denn was prasselt nicht alles auf ihn ein: Die zahlreichen Begegnungen mit „interessantem“ Personal (wie mit Jeunets Lieblingsschauspieler DOMINIQUE PINON als Tramp „Zweite Wolke“); das unbefangene Umgehen mit Natur, Wissen, Kultur; diesen vielen Entdeckungen und ihre sofortige Be- wie Aufarbeitung sowie schließlich das Aufeinandertreffen mit „der Herrscherin“ von Smithsonian, Miss Jibsen, der überwältigten Kuratorin (JUDY DAVIS). Dies und viel mehr entwickelt sich zu einem „E.T.“-ähnlichen Märchen in der Aussage – selbst die intelligenteste Intelligenz kann nicht verhindern, dass diese riesige Welt einfach zu komplex ist als dass sie „erklärt“, geschweige denn „gelöst/erlöst“ werden kann. Zum Beispiel von der Einsamkeit. Was dann auch die Eltern spüren. Die ihren T.S. plötzlich „immens“ vermissen.
Der verblüffend ruhige, dabei ständig faszinierende Film, übrigens – in sanftem 3 D gezaubert, ist und (ge-)fällt mit dem Hauptdarsteller. Und DER ist einfach unbefangen, natürlich, clever, als ein Er-Selbst. In diesem träumerischen wie traumatischen Ami-Land; in dem die Hot Dog-Buden nachts in gelblichem Licht leuchten, das Weite Land so ursprünglich erscheint wie vor Jahrhunderten einmal, während erbärmliche TV-Talkmaster heute dämlich herumnölen, um das Volk zu verblöden. Jedoch SO NICHT mit T.S., alias: KYLE CATLETT. Dessen Debüt in einem Kinofilm überwältigend ist. Normal. Unbefangen. Hintergründig. Feixend. Liebevoll. Der junge Mann, der äußerlich an den jungen Macauly Culkin erinnert („Kevin – Allein zu Haus“), bewährt sich phänomenal hieb- und stichfest in und mit seiner charmevollen inneren (Aus-)Strahlung. Ein formidabler Talent-Bursche.
„Die Karte meiner Träume“ ist ein magisches, fantasievolles Poem. Mit viel Berührungsvergnügen. Zum Mögen. Und zum Viel-Schwärmen. Es lohnt sich also erneut, sich einen Jean-Pierre Jeunet-Film „anzutun“, dessen eigenwillige, unorthodoxe Struktur von KINO-Unterhaltung einmalig ist, bleibt und toll wirkt (= 4 ½ PÖNIs).