PÖNIs: (5/5)
„ICH, DANIEL BLAKE“ von Ken Loach (GB/Fr/Belgien 2015; B: Paul Laverty; K: Robbie Ryan; M: George Fenton; 100 Minuten; deutscher Kino-Start: 24.11.2016); dieser Film macht SEHR wütend; dieser Film macht unendlich traurig. Die kluge „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb am 13.07.2016 über den deutschen Film „Toni Erdmann“ begeistert, er sei ein „Sozialuniversaldrama“. Mal angenommen, man übernimmt solch einen ziemlich blödsinnig klingenden Begriff, dann trifft er überhaupt nicht auf das deutsche Missverständnis zu, sondern viel-viel eher auf dieses starke, aufwühlende, emotional an die Wahrhaftigkeitsgrenze gehende Spitzenwerk des 80-jährigen britischen Filmemachers KEN LOACH. Für das er im Frühjahr beim Festival von Cannes – nach „The Wind That Shakes The Barley“/2006 – zum zweiten Mal den Hauptpreis zugesprochen bekam, die „Goldene Palme“. Der Veteran KEN LOACH hat mit „ICH, DANIEL BLAKE“ ein überragendes menschliches Alterswerk geschaffen.
Daniel Blake (DAVE JOHNS), 59. Aus Newcastle. Zimmermann, Witwer. Ein grundsolider Mann. Prädestiniert für den Begriff „der normale Mann aus dem Volk“. Unauffällig, den Regeln folgend, hat er sein Leben gelebt. Bisher jedenfalls. Nach einem Herzinfarkt rät ihm seine Ärztin, noch nicht wieder die Arbeit aufzunehmen. Dies wäre für ihn gesundheitlich noch zu gefährlich. Die Folge: Daniel Blake gerät in das „System“. Sprich, in die Mühlen der britischen Sozialbürokratie. Die es, neu formiert, als höchste Aufgabe ansieht, Sozialgeld einzusparen. Dafür wurde eine Struktur erfunden, bei der „DER ENTSCHEIDUNGSTRÄGER“, wer und wo „ER“ auch immer ist/sich befindet, der sozusagen „Große Bruder“ des armen Volkes ist. Auf ihn kann man alles schieben, zu gegebener Zeit wird ER sich schon melden. Äußern. Entscheiden. Heißt es. Immer wieder.
Die Gesundheitsfachkraft. Medizinisch unwissend, dafür bürokratisch „getrimmt“. Für solche „Klienten“ wie jetzt Daniel Blake; Klienten, so jedenfalls lautet der offizielle amtliche Sprachgebrauch. Nach einem 52-seitigen Formular geht es nun darum, mündlich „einfache Fragen“ zu beantworten. Im Grunde diskriminierende Fragen. An einen 59-Jährigen, der sein Leben lang tätig war, sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Dabei begegnet sie ihm system-immanent. Also emotionslos, kalt, würde- wie respektlos. Als wäre Daniel Blake entmündigt. Nach dem Motto: Ich stehe über Dir. Du, Daniel Blake, bist (= bedeutest) unten, ich, deine „amtliche Herrin“, bin oben. Dabei sind seine Forderungen ganz einfach. Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, meine Sozialbeiträge pflichtgemäß bezahlt, jetzt benötige ich die mir zustehende Unterstützung. Bis ich wieder arbeiten kann. Da Daniel Blake, laut der Gesundheitsfachkraft, aber bei seiner „Anhörung“ nur 12 von notwendigen 15 Punkten erreicht hat, wird er abgewiesen. Darf am Telefon 1 Stunde und 48 Minuten warten, bis er Widerspruch einlegen kann. Jedoch geht dies nur online, was Daniel nicht beherrscht. Und immer und immer wieder der berühmte Satz: WIR MÜSSEN UNS AN DIE VORSCHRIFTEN HALTEN. Basta. Also gilt es jetzt, nachweislich mindestens 35 Stunden in der Woche, aussichtslose Bewerbungen zu schreiben (obwohl seine Ärztin ihn weiterhin für arbeitsunfähig erklärt; ihn krank-geschrieben hat), immer einen Lebenslauf bei sich zu tragen (der täglich „beweissicher“ ergänzt werden muss), und weil dies natürlich vielleicht etwas kompliziert für ihn sei, darf der 59-jährige Handwerker Daniel Blake einen diesbezüglichen Workshop besuchen („Wie schreibe ich einen richtigen Lebenslauf“). „Ich habe mir allergrößte Mühe gegeben“; „das ist nicht gut genug“, keilt die zuständige Jobcenter-Frau zurück. Der totale Leistungsentzug droht. Die definitive Ausgrenzung.
Aber er ist nicht mehr ganz allein. Katie (HAYLEY SQUIRES) kreuzt seine Amts-Wege. Arbeitslose alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Eine einfache ehrliche Haut. Daniel & Katie bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft. Doch die bürokratischen Klippen des britischen Sozialstaates sind tückisch. Für das System sind die Beiden im Grunde Schmarotzer. Unberechtigte. Gesellschaftlich Unnütze. Also gilt es, ihn und auch sie von – Staats-wegen – zu zermürben. Zu erniedrigen. Sie zu totalen Untertanen zu degradieren („Machen SIE keinen weiteren Ärger“). Um irgendwann vielleicht doch Sozial-Brotkrumen zu verteilen.
Armut, das ist doch eine Charakterschwäche, riecht es allerorten hier. Daniel Blake verliert seine Selbstachtung.
Was für ein wahrhaftiger, eindringlicher Film! Der natürlich nicht nur das faule moderne britische Sozialsystem attackiert. Bloßstellt. Sondern Allgemeingültigkeit ausatmet. Der tief-spannend eine berührende Hymne auf die Vergessenen, die vielen Anonymen ist. Die Sprachlosen der Zivilgesellschaft. Der mit Ken Loach seit vielen Jahren zusammenarbeitende Drehbuch-Autor PAUL LAVERTY, bei „Ich, Daniel Blake“ sind sie zum 14. Mal zusammen, hat viel recherchiert und traf sich mit vielen Betroffenen. Konnte dadurch ein ebenso authentisches wie realistisches Buch verfassen („Das sind keine Einzelfälle; von den Sparmaßnahmen sind vor allem die sozial Schwachen betroffen“/Presseheft).
KEN LOACH, zuletzt 2014 mit „Jimmy’s Hall“ (s. Kino-KRITIK) im Kino, schuf daraus seinen unversöhnlichsten Spannungsfilm seit langem. „Die Welt, in der wir leben, ist an einem heiklen, gefährlichen Punkt angekommen“, betonte er in Cannes. Und griff den Neoliberalismus an, der „viele Menschen in Not und einige wenige zu groteskem Reichtum gebracht“ hat. „ICH, DANIEL BLAKE“ ist kein linkes Pamphlet, sondern hochspannendes, hochemotionales, hochanständiges Zorn-Kino. Das einem die Wut-Tränen in die Augen treibt.
Debütant DAVE JOHNS, im Hauptberuf britischer Stand-up-Komiker, trifft als Daniel Blake körpersprachlich-genau den Menschen und präzise „die Person“, wie sie amtlicherseits bezeichnet, behandelt wird. Als Normalbürger mit gesundem Menschenverstand ist seine zunehmende Verständnislosigkeit und Verzweiflung empörend-„echt“. Zu übernehmen. Sensibel wirkungsvoll. Dave „Daniel Blake“ Johns ist mächtig in seiner Empfindsamkeit. HAYLEY SQUIRES als Katie vermag jede Wehleidigkeit auszuschließen. Und zeichnet eine ebenso grandiose, überzeugende Performance einer gesellschaftlich Abgehängten. Eindringlich, unter die Haut gehend.
„ICH, DANIEL BLAKE“ ist ein Kopf- und Bauch-Meisterwerk (= 5 PÖNIs).