PÖNIs: (3,5/5)
„DIE FARBE AUS DEM ALL“ von Richard Stanley (Co-B + R; Portugal/Malaysia/USA 2019; Co-B: Scarlett Amaris; nach Motiven der gleichn. Kurzgeschichte von H. P. Lovecraft/1927; K: Steve Annis; M: Colin Stetson; 111 Minuten; deutscher Kinostart: 05.03.2020).
Gastkritik von Dr. Rolf Giesen
Marginalisiert ist vieles, auch die Filmszene. Für alles und jedes gibt es mehr oder weniger Liebhaber, die das Wort „Kult“ so locker und schnell auf den Lippen haben wie angetrunkene Cowboys in Wildwestfilmen den Colt in der Hand. Dank einer in den 1970er Jahren von amerikanischen Literaturwissenschaftlern verbreiteten Genre-Theorie, die inzwischen selbst den Herausgebern des renommierten Reclam Verlags den Kopf verdreht hat, ist auch aus dem Dutzendfilm Kult geworden. Die Liebhaber von Horror, Fantasy und Science Fiction müssen sich nicht mehr schämen, da ihnen Apologeten aus der sogenannten Filmwissenschaft zu Hilfe kommen, die das Gesehene in Fremdwörtern deuten und nach Belieben in höhere Sphären erheben, falls, ja, falls der Regisseur, der hinter dem Unternehmen steckt, ein wahrer Auteur ist, sozusagen ein Jean-Luc Godard oder François Truffaut des phantastischen Films. Im vorliegenden Fall ist es der Regisseur Richard Stanley, dem Sascha Westphal, Co-Autor von Büchern über Eckhart Schmidt, Russell Crowe und Dämonenjägerin Buffy, unlängst eine Hymne in epd film gewidmet hat: Das Werk des 1966 in Südafrika geborenen, in Frankreich lebenden Filmemachers, der sich auch als Anthropologe versteht, Urenkel des Afrikaforschers Sir Henry Morton Stanley, sei von okkulten und manichäischen Ideen geprägt, sein Interesse gelte vor allem den Überbleibseln archaischer, vorchristlicher Religionen und Rituale. Damit ist Stanley für Westphal ganz klar ein „Kultregisseur“ und ein Kämpfer sowieso. 1995 wurde er, nach seinen Spielfilm-Debüts „M.A.R.K. 13 – Hardware“ (1990) und „Dust Devil“ (1992), vom Set seiner modernisierten Film-Adaption von H. G. Wells‘ „DNA Die Insel des Dr. Moreau“ (mit Marlon Brando in der Titelrolle) gefeuert und durch John Frankenheimer ersetzt. Es verging ein Vierteljahrhundert, bis er seinen nächsten Spielfilm in eigener Regie realisieren konnte. Stanley ließ sich in der Zwischenzeit nicht unterkriegen, verfasste Drehbücher für Mystery- und SciFi-Thriller („The Abandoned“, „Imago mortis“, „Replace“), drehte Musikvideos, Kurz- und Dokumentarfilme, darunter „The White Darkness“ über die Rolle von Voodoo in der haitianischen Gesellschaft und „The Secret Glory“, der von der Suche des 1939 in Tirol unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen SS-Obersturmführers und Ariosophen Otto Rahn nach dem Heiligen Gral erzählt.
Westphal findet, das Warten habe sich gelohnt. Denn im Falle von Stanleys neuem Spielfilm kommt Kult zu Kult: Stanley-Kult vermischt sich mit (unter Kultisten noch populärerem) Lovecraft-Kult. Im Alter von 13 Jahren hat Richard Stanley nämlich die Werke von H. P. Lovecraft entdeckt und ist in das „necronomische“ Universum des Cthulhu-Mythos eingedrungen. Howard Phillips Lovecraft, Exzentriker, Rassist (der Afroamerikaner mit Affen verglich) und Gruselschriftsteller in der Nachfolge von Edgar Allan Poe, lebte, wirkte und starb (im Alter von 46 Jahren) in Providence, Rhode Island: „Das älteste und stärkste Gefühl des Menschen ist die Angst. Und die älteste und stärkste Form der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“ Über Lovecrafts Psyche, schrieb Feuilletonredakteur Wieland Freund am 31. Oktober 2017 in der Welt, sei endlos spekuliert worden: Ödipales Verhältnis zur Mutter und zu vielen Tanten, psychosomatische Flucht, Kataplexie oder Schlafstarre, eine nächtliche Lähmung, die den Träumenden hilflos seinen Träumen aussetzt. In jedem Fall sei Lovecraft ein außergewöhnlicher Albträumer gewesen, dessen Nachtmahre seine Geschichten bevölkerten, die zu Lebzeiten ausschließlich in Groschenheften erschienen („Weird Tales“, „Astounding Stories“). Lovecraft war der rechte Autor für Weltschmerz & dekadente Untergangsphantasien: Aus solch einer Sozialisation und der Furcht vor einem „degenerierten Völkergemisch“ war der Stoff für literarische Albträume gewoben, deren Einflüsse nachgewirkt haben auf so unterschiedliche Geister wie Erich von Däniken, Stephen King, H. R. Giger, Clive Barker, Stuart Gordon, Wolfgang Hohlbein und – Michel Houellebecq: Der Zugang zum künstlerischen Universum ist mehr oder weniger für jene reserviert, die ein wenig die Schnauze voll haben. Bei Lovecraft liest sich das so: …man wünscht sich, dass der Himmel eine gnädige Brise Zyanid schickt, um die ganze gigantische Monstrosität zu ersticken, dem Elend ein Ende zu bereiten und den Ort zu säubern. Feststellungen wie diese haben im Denken der Wutbürger von heute Konjunktur. In den 1970er Jahren wurde der Autor bei Suhrkamp in der Phantastischen Bibliothek „geadelt“ und davor schon in Filmen wie „It Came from Outer Space (Gefahr aus dem Weltall)“, „The Blob (Blob – Schrecken ohne Namen)“ und „Die, Monster, Die! (Das Grauen auf Schloss Witley)“ mit Boris Karloff und Nick Adams zitiert, letzteres die Erstverfilmung der Kurzgeschichte „The Color out of Space“, die Lovecraft im März 1927 geschrieben hatte und die im September desselben Jahres in den „Amazing Stories“ des Herausgebers Hugo Gernsback erschienen war: Auf dem Gelände einer Farm unweit der fiktiven Stadt Arkham in Massachusetts schlägt ein großer Meteorit ein, dessen außerirdische Farben auf Flora und Fauna einwirken. Tiere, dann auch Menschen verfärben sich grau und zerfallen. Durch den Konsum von Wasser aus dem Brunnen und Lebensmitteln wird die auf dem Hof lebende Familie Gardner Opfer des verseuchten, parasitären Farbenspiels, das sich von ihnen nährt. Zweimal interessierten sich deutsche Bildermacher für die Geschichte: Huan Vus Film „Die Farbe“ (2010) verlegt die Story in den Schwäbisch-Fränkischen Wald nach dem Zweiten Weltkrieg, der Berliner Comiczeichner und Illustrator Andreas Hartung verarbeitete sie 2017 zu einer „Dark Doom Drone Comic Picture Show“, einer Art Dia-Show, untermalt von einem Soundtrack des Dunwich Orchestra.
Richard Stanley überträgt Lovecraft in die Gegenwart: Die Gardner-Familie, angeführt von NICOLAS CAGE als Nathan Gardner, zieht sich aus der Stadt zurück aufs Land, auf eine Alpaka-Farm, wo ein Aerolith Landschaft, Tiere und Menschen mit seiner jenseitigen Farbe infiziert. Unbekannte Blumen beginnen zu blühen. Schon Wochen vorher sind die Tomaten reif. Telefon, Computer, Fernsehempfang sind gestört. Gedreht wurde mit einem Budget von sechs Millionen Dollar von Januar bis März 2019 in Portugal. Stanleys Film bleibt, abgesehen von der Zeitverschiebung, sehr dicht an Lovecrafts Erzählung und übersetzt Lovecrafts schaurige Prosa in adäquate Bilder. Die Kamera von Stanley und Steve Annis („I Am Mother“) zeigt die merkwürdige Light Show, die Lovecraft nur mit Worten zu beschreiben vermochte, dank entsprechender CG-Technik fluoreszierend, halluzinogen und psychedelisch wie einen Trip ins Horror-Reich. Der Film machte inzwischen die Runde durch die einschlägigen Festivals von Toronto (Premiere) über Austin bis Sitges. Der ganze Film sehe aus, als sei er unter dem Einfluss von LSD entstanden, schrieb Cath Clarke, Kritikerin des Guardian: „Ich lachte laut bei den kitschigsten Szenen. Aber ich muss zugeben, dass es mich in seinen Bann zog und auch erschreckte“ (= 3 1/2 „Rolf Giesen“-PÖNIs).