DEUTSCHSTUNDE

PÖNIs: (4,5/5)

„DEUTSCHSTUNDE“ von Christian Schwochow (D 2018; B: Heide Schwochow; nach dem gleichn. Roman von Siegfried Lenz/1968; K: Frank Lamm; M: Lorenz Dangel; 125 Minuten; deutscher Kino-Start: 03.10.2019); 51 Jahre nach der Erst-Veröffentlichung ist dieser Bestseller-Roman von Siegfried Lenz so aktuell wie einst. Mit d e m Satz, der so unerhört wütend macht und dennoch leider „gilt“: „Brauchbare Menschen müssen sich fügen“. Wie widerlich.

Aber stimmend. Wie überhaupt dieser Film – für mich der beste deutsche Kinofilm des Jahres – „stimmt“. Dessen Gedanken außerordentlich nachvollziehbar sind. Und wie damals, als es 1968 mit dem legendären Roman galt, die Nazi-Ideologie und die Nazi-Schergen empfindlich vorzuführen, zu treffen, also zu demaskieren, besitzt der Film auch heute wieder ein riesiges Empörungspotenzial/die GANZ große Wut. In unseren Zeiten der umfangreichen antidemokratischen Tendenzen wirkt dieser Film wie eine spannende Sauerstoffzufuhr, mit viel brillanter wie unterschiedlicher Empathie-Atmosphäre.

Die BRD. Anfang der 1950er Jahre. Wie drohten doch einst immer wieder die Eltern: Wenn du dich nicht benimmst, kommst du ins Heim. Erziehungsheim. Die alte Nazi-Sprache. Er heißt Siggi Jepsen (TOM GRONAU). Befindet sich in einer Strafanstalt. Soll einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Findet aber keinen Zugang. Seine Seiten bleiben leer. Am nächsten Tag darf er in der Zelle „nachsitzen“. Und plötzlich schreibt er wie besessen seine Erinnerungen auf.

Die beginnen 1944. Siggi ist 11 und lebt mit Vater Jens Ole (ULRICH NOETHEN) und Mutter Gudrun (SONJA RICHTER) in dem abgelegenen norddeutschen Kaff Rugbüll. Wo sich die See immer mal wieder für einige Stunden verabschiedet und das Watt freisetzt. Hier, weit weg von Berlin, ist sein Vater – wie dieser immer wieder stolz feststellt – der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“. Und versieht diesen Posten „der Macht“ mit pflichtversessener = besessener, fanatischer Treue-Aufgabe. Ganz im Sinne des – weit entfernten – nationalsozialistischen Regimes. Wo „entartete Kunst“ ein Verbots-Thema ist. Eigentlich ist Jens Ole Jepsen, also DER OHNE UNIFORM, mit dem Maler Max Ludwig Nansen (TOBIAS MORETTI) befreundet. Doch dessen expressionistische Bilder gelten plötzlich als entartet. BERLIN hat „nach Meldung“ reagiert und ein Sofort-Mal-Verbot ausgesprochen. Jens Ole überbringt seinem Freund den schriftlichen Befehl. Unverzüglich, umgehend ist ab sofort das Malen für Nansen verboten. Was den kleinen Siggi (LEVI EISENBLÄTTER) in einen tiefen seelischen Zwiespalt führt. Einerseits seinem Vater „zu folgen“, andererseits die Freundschaft mit Max nicht aufgeben zu wollen. Und dabei lernt er, wie man sich „subversiv“ verhält. Während sich die – inzwischen getrennten – Erwachsenen duellieren. Mal offen, mal mit viel Schweigen belegt. Dann fallen Entscheidungen.

Die Deutungen purzeln. „Deutschstunde“, der Film, ist großartig. Im Denken, Durchführen, Handeln, Betrachten. Dunkel und düster breitet sich die vom Menschen veranstaltete Entmenschlichung aus. Dünen und Strand, Wind und Wasser bedeuten keine Luft-Hoheit, sondern riechen nach Druck, Unterwürfigkeit, Verbrechen. Legen sich wie eine endlose Schamkette über Raum. Und – schlimme – Zeit. Selten einen so innerlich explodierenden deutschen Film gesehen, der auf brillant simple Weise davon erzählt, wie „Politik“/Ideologie/Faschismus funktionieren. Im Einfachen. Kleinen. Diese ekelhafte Obrigkeits-Unterwürfigkeit. Wohin sie führen kann. Wie dämlich manipulierbar der dumme Mensch sein kann. Und heute wieder: ist.

ULRICH NOETHEN, oft im Fernsehen (gerade: „Charité“; 2004 als Heinrich Himmler in „Der Untergang“), spielt sensationell-tief und beschämend-eindringlich den Opportunisten und Uniform-Fanatiker. Auf seine Figur wird man richtig wütend. TOBIAS MORETTI (unvergessen als Ferdinand Marian in „Jud Süß – Film ohne Gewissen“, 2010) hat als Sündenbock-Künstler enorme stark-ruhige Auftritte. CHRISTIAN SCHWOCHOW, mehrfacher „Adolf Grimme“-Preisträger („Der Turm“; „Bornholmer Straße“; „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ und soeben für die TV-Reihe „Bad Banks“), trifft – nach einem Drehbuch seiner Mutter Heide – mit seiner vorzüglichen, unaufdringlichen und deutlichen Inszenierungskunst sowohl Viel-Kopf und entsetzlich-echt: Bauch.

„Dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht“, erläuterte Siegfried Lenz damals seinen Roman, der zu einem Welterfolg avancierte und weiterhin als dringende Schullektüre benötigt wird. Packende Unterhaltung mit Sinn: „Deutschstunde“ hätte uns für die Auswahl als „Oscar“-Nominierungsfilm auch gut getan. SEHR GUT vertreten. Einer der wenigen deutschen Muss-Kinofilme in diesem Jahr (= 4 1/2 PÖNIs).

Teilen mit: