PÖNIs: (4,5/5)
„ALOIS NEBEL“ von Tomás Lunak (Tschechien/D 2011; B: Jaroslav Rudis, Jaromír Svejdík; basierend auf der Grundlage ihrer gleichnamigen „Graphic Novel“; Co-Produzent: Ralf Kukula; Designer: Jaromír Svejdík; M: Petr Kruzík, Ondrej Jezek; 84 Minuten; deutscher Kino-Start: 12.12.2013); GRAPHIC NOVEL sind bekanntlich anspruchsvolle Comics in Buchformat. In Tschechien besitzt „Alois Nebel“ längst Kultstatus. Die von 2003 bis 2005 in tschechischer Sprache erschienenen Bücher wurden 2006 zu einer Gesamtausgabe verfasst. 2012 wurde das Werk in deutscher Übersetzung herausgebracht. Der Film, der auf den Festivals von Toronto und Venedig gezeigt wurde, erhielt im Vorjahr den „Europäischen Filmpreis“ als „Bester Animationsfilm“. Dabei ist es eine ganz spezielle Art von Animation. Stichwort: das Rotoskopie-Verfahren. Bei dem werden reale Szenen mit realen Schauspielern gedreht und von hinten auf eine Glasscheibe projiziert, wo sie dann Bild für Bild abgezeichnet werden. Ähnlich wie neulich bei Filmen wie „Waltz with Bashir“ von Ari Folman und „A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm“ von Richard Linklater. Walt Disney hatte dieses Verfahren übrigens bereits auch 1937 bei der Umsetzung von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ verwandt.
Alois Nebel. Der Nachname rückwärts gelesen ergibt: LEBEN: Alois Nebel lebt still, wortkarg, unauffällig. Er ist Fahrdienstleiter auf einem kleinen Bahnhof. In Bily Potok, einem abgelegenen Ort der früher Weißbach hieß und an der tschechischen Grenze zu Polen liegt. Dem früheren Sudetenland. Kaum ein anderer Ort in Zentral-Europas zerstörender Geschichte der letzten hundert Jahre birgt eine Vergangenheit mit einer derartigen Heftigkeit und Brutalität wie das Sudetenland. Ursprünglich war es ein Teil von Tschechien, doch nach dem „Münchener Abkommen“ im Jahr 1938 geriet es in die Hände der Nazis, also des Dritten Reiches. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die gesamte deutsche Bevölkerung auf Erlass der Regierung vertrieben. Dieses schreckliche Trauma prägt immer noch diese Gegend, wurde nie richtig aufgearbeitet und ist eines der wichtigen Themen dieses Films. Denn der Charakter des Einzelgängers Alois Nebel ist geprägt von immer wieder erscheinenden Alptraum-Visionen der einstigen tragischen Ereignisse und von seinen persönlichen fürchterlichen Erinnerungen an die Vertreibung. Erst wenn er diese wirklich verarbeitet, wird er seinen inneren Frieden finden. Doch bis es möglicherweise dazu kommt, muss er viele und beschwerliche Umwege in Kauf nehmen. Denn in der Hauptsache waren es die Züge, die im vorigen Jahrhundert Unrecht transportierten. Und mit „Zügen“ und deren „Gewalt“ hat Alois Nebel sein ganzes Leben lang zu tun. Einzig beim Lesen alter Fahrpläne und Kursbücher findet der Solist Ruhe. Entspannung. Sicherheit. Für einen Moment.
Der Handlungsstrang ist im dortigen Gebirge von Jeseník angesiedelt. Es ist der Herbst 1989. Erst taucht ein stummer Fremder an seiner Station auf, mit einem alten Foto des Bahnhofs, dann wird ihm ein intriganter Kollege zum Verhängnis. Der hätte gerne den Job von ihm. Also landet Alois Nebel in einem Sanatorium. Als er es verlassen darf, haben sich „die Zeiten“ gänzlich verändert. Die Mauer in Berlin ist gefallen, das Kommunistische Regime hat abgedankt. Eine Orientierung fällt jetzt schwer. Alois Nebel steht vor dem Nichts. In der Kommandozentrale der Bahn in Prag vermag man ihm nicht zu helfen. Als er aber ausgerechnet dort der Liebe seines Lebens, der heiteren, intelligenten, mitten im Leben stehenden Kveta begegnet, bekommt er doch noch eine Chance, gegen seine inneren Dämonen anzugehen. Dazu muss der Fünfzigjährige allerdings noch einmal an DEN Ort zurück, an dem er fast sein ganzes Leben verbracht hat. Es gilt, „den Stummen“ zu finden, dessen Schicksal offensichtlich mit dem Seinen verbunden ist, um die schlimmen Erinnerungen für immer und ewig begraben zu können.
WAS für ein GEWALTIGES Werk. Eine Art Noir-Thriller mit persönlicher Trauer und einer hochpolitischen Note. Mit packender Tiefe. Der ein in Tschechien jahrzehntelang unterdrücktes Tabu vehement aufwirft: die Vertreibung von drei Millionen Deutschen in den böhmischen Ländern. Ausgehend von einem geplagten, gepeinigten, sprachlosen Menschen, inmitten einer berührenden Erzählung. Mit einer rauen Erzählweise gestrickt. Das kühne kalte Spiel zwischen Licht und Schatten ist faszinierend. Außerordentlich atmosphärisch. Mit diesen starken Spannungskontrasten zwischen Schwarz und Weiß. Motto: die Sprache der Seele(n). In diesem bösen Nebel der Vergangenheit, während der Nachkriegszeit. Und dem Trauma-Spuk bis in die Gegenwart. Von 1989. In seiner ungemein wirkungsvollen Scherenschnitt-Düsternis geht der Streifen unter die Haut. So dicht, so nah, so eindringlich. „Alois Nebel“ ist ein großartiges Kältedenkmovie von melancholischem Sog-Film. Bilder, Figuren besitzen hypnotische Emotionen und vermitteln aufwühlende Gedanken. Ein Film, der am Schluss noch lange nicht zu Ende ist (= 4 1/2 PÖNIs).