„DIE SÜSSE GIER – IL CAPITALE UMANO von Paolo Vizi (Co-B + R; Italien/Fr 2013; Co-B: Francesco Bruni, Francesco Piccolo; nach dem Roman „Human Capital“ von Stephen Amidon; K: Jérome Alméras; M: Carlos Virzi; 109 Minuten; Start D: 08.01.2015); ich kann mich nicht erinnern, einen solch imponierenden italienischen Unterhaltungs-Politfilm in den letzten Jahren genossen zu haben. Die Vorlage des Films ist der 2004 erschienene Bestsellerroman „Human Capital“, deutscher Titel „Der Sündenfall“, des amerikanischen Schriftstellers Stephen Amidon. Die Drehbuch-Autoren des Films, darunter Regisseur PAOLO VIZI, verlegten allerdings den Ort des Geschehens von Connecticut in die norditalienische Provinz Monza und Brianza. Dort, im Raum zwischen Mailand und Como, befindet sich auch heute noch der Wirtschaftsmotor Italiens. Es ist eine der reichsten wie dichtbesiedelten Gegenden Italiens.
„Human Capital“ oder: die bare Bewertung und „Ortung“ eines Menschen. Was besitzt er, auf wieviel Geld wird er eingeschätzt. Wie lautet „demzufolge“ seine gesellschaftliche Einstufung. Stellung. Anerkennung. Um beispielsweise Schadensersatzansprüche auszurechnen, haben Versicherungen einen klar definierten Satz: Die Lebenserwartung eines Menschen, sein voraussichtliches Einkommen und die Qualität und Quantität seiner menschlichen Beziehungen. Ergeben eine Je nach dem-Summe.
Dino Ossola (FABRIZIO BENTIVOGLIO), ein „unbedeutender“ Immobilienmakler, möchte so gerne wie unbedingt bei den „Großen“ mitmischen. Über seine attraktive Tochter Serena (MATILDE GIOLI), die mit dem Sohn eines superreichen, also mächtigen Finanzspekulanten liiert ist, gelangt er in die Nähe der Familie Bernaschi. Die volle Anziehungspracht: Dort, wo alles so schön, komfortabel, störfrei-makellos ausschaut, riskiert der „kleine“ wie aufdringliche Dino das gesamte Familien-Vermögen. Ohne sich mit seiner schwangeren Freundin und seiner Tochter abzusprechen. Für einen neuen hochspekulativen Investment-Fond. Auf Pump zusammengekratzt. Weil die eigenen Geschäfte gerade nicht so gut laufen. Doch die Aussicht auf bis zu 40% Profit lassen ihn träumen. Von Mehr, viel Mehr. Die Gier treibt ihn mächtig an. Zumal er nun mit am Tisch der Geld-Geier sitzen darf.
Während Giovanni Bernaschi (FABRIZIO GIFUNI) mit dem frischen Geld der Anleger die Geschäfte in Gang bringt, langweilt sich Ehefrau Carla (VALERIA BRUNI TEDESCHI). Lümmelt sich tagsüber mit Wohlstandsdepressionen und Luxus-Problemen herum (eine neue ägyptische Statue?), fühlt sich leer und unbefriedigt. Gerät mit Kulturschaffenden der Gemeinde in Kontakt, weil sie beabsichtigt, ein altehrwürdiges Theater wieder aufwändig, also teuer, zu reaktivieren. Was ihrem Gatten gar nicht gefällt, schließlich gilt es, aus dem Gebäude, der Immobilie, Geld durch den Abriss und Bau eines neuen Hotels hereinzuholen. Zudem häufen sich die Probleme mit dem unreifen Sohn der Familie und Freund von Serena. Massimiliano Bernaschi, Marke verwöhntes Gör, hat bei der Auto-Heimkehr von einer extremen Suff-Party offensichtlich einen Radfahrer überfahren und tödlich verletzt. Kann – oder will – sich aber nicht daran erinnern. Doch die Polizei lässt nicht locker.
Regisseur Paolo Vizi hat seinen 11. Spielfilm dreiteilig strukturiert. Die Geschehnisse um Abhängigkeiten, Gier, Macht, Vergnügen, schwere Schuld und Verbrechen werden aus der Sicht von drei Hauptbeteiligten erzählt. Nach Dino und Carla wird die dritte Variante nun aus der Sicht und dem Temperament von Serena erzählt. Die sich inzwischen partnerschaftlich längst anderweitig „orientiert“ hat. Was wichtig ist und zu völlig neuen wie schlauen Spannungsperspektiven in Thriller-Sachen „Who done it?“ führt. Von wegen – niemand ist hier überhaupt „sauber“. Alle tricksen, lauern, benehmen sich unordentlich, i n der Hoffnung auf emotionale und finanzielle Erfüllung. Beziehungsweise umgekehrt. Unangetastet durchmogeln, auf Deibel komm ´raus, lautet das Motto dieser Herrschaften. Und wenn es sein muss, wird sogar auf den Absturz des eigenen Staates gewettet. Hauptsache: Gewinn. Viel davon. Egal wie, WIR sind, wir bleiben stetig die Sieger. Die Vorteils-Nehmer. In diesem gesellschaftlichen italienischen Gemeinspiel. Um den immensen Verlust der Moral-Werte.
Dabei schart Paolo Vizi nicht mit Ausrufungszeichen-Hufen, sondern geht mit viel Spaß und Wut-Lust ans spannende Werk. Und triumphiert mit einem ganz vorzüglichen Ensemble. Während Fabrizio Bentivoglio wunderbar nervend seinen debilen Immobilien-Signore Dino präsentiert, setzt Valeria Bruni Tedschi, ja, die Schwester von Carla/Ehefrau des französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy, als schwächelndes Ehe-Ausstellungsstück und Mutter-Glucke Carla faszinierende darstellerische Prädikatszeichen. Wie sie da permanent verschüchtert, verklärt, als neurotische Xantippe auf ihren High Heels herumstakst, ist aller Ausdrucks-Ehren wert.
Der saubere Schmutz: „Die süße Gier“ lässt durchtriebene Marionetten des Turbo-Kapitalismus faszinierend tanzen. Italien kann mit diesem aktuellen Gesellschafts-Thriller mächtig punkten (= 4 PÖNIs).