PÖNIs: (5/5)
„HER“ von Spike Jonze (B + R; USA 2012/2013; K: Hoyte van Hoytema; M: Arcade Fire; 126 Minuten; deutscher Kino-Start: 27.03.2014); von wegen – das Kino hätte gar nichts mehr Neues zu zeigen, zu empfinden, zu denken. Völlig falsch. Beziehungsweise ganz im Gegenteil. Mit diesem Meisterwerk erweist sich der am 22. Oktober 1969 in Rockville, Maryland als Adam Spiegel geborene SPIKE JONZE (gesprochen: Spike Joohns) als einer der kreativsten, innovativsten Filmemacher der Gegenwart. Waren die Arbeiten des Produzenten (Erfinder der MTV-Serie „Jackass“ und Hersteller des Films zur Serie „Jackass: The Movie“), Drehbuch-Autoren, Musik- und Skateboardvideofilmers (z.B. 2004 für „Hot Chocolate!“), Schauspielers („Three Kings“) und Regisseurs immer schon außergewöhnlich faszinierende filmische Besonderheiten – siehe: „Being John Malkovich“ (1999); „Adaption“ (2002) und „Wo die wilden Kerle wohnen“ (2009; s. Kino-KRITIK) -, so steigert er sich hier mit einer ungeheuer beeindruckenden, phantasiereichen visionären Vielfalt, die das Kino erheblich wie spannend wie aufregend „vorwärts“ bringt. Anfang März 2014 wurde Spike Jonze mit dem „Oscar“ für das „Beste Originaldrehbuch“ für „HER“ völlig zu Recht „amtlich“ belobigt. Ohne Frage: SPIKE JONZE IST EIN WAHRER KULT-REGISSEUR!
Wo fangen wir an? Vielleicht so – in einer baldigen sanften Zukunft. Geschätzt: 2025. In DER gibt es in Los Angeles schön-futuristisch anmutende Hochhäuser, in denen ruhige Menschen wie Theodore Twombly in großzügigen Appartements leben, ausgestattet mit feinem Licht-Blick über prächtige Panoramafenster. (Gedreht wurde übrigens in Shanghai, im dortigen ultramodernen Stadtteil Pudong.) Autos existieren offensichtlich nicht mehr, dafür blicken wir zumeist auf normale Gesichter von herumlaufenden oder Bahn-fahrenden Menschen. Die meistens ihre elektronischen Kleingeräte ohne Tastatur, dafür mit Sprachbedienung mit sich führen und über DIE unauffällig wie unangestrengt kommunizieren. Blicke auf den oder die Nachbarn gibt es kaum, „Körper“ hat offensichtlich an Reiz und Blickfang eingebüßt. Stattdessen konzentriert man sich auf die kleinen technischen Kontaktmaschinen, in die permanent hineingesprochen wird. Irgendwie herrscht hier eine Zufriedenheit, ohne dass dies näher definiert wird. ER allerdings ist traurig. Von Melancholie beseelt. Theodore Twombly (JOAQUIN PHOENIX). Er ist bei dem Unternehmen „BeautifulHandwrittenLetters.com“ als Verfasser von persönlichen Briefen angestellt. Tagtäglich spricht er rührende Brieftexte in den Computer, einfühlsame Mitteilungen für zahlende Kunden, für deren private Weiterleitung. Weil viele diese Mitteilungsform zwischenmenschlichen Ausdrucks offensichtlich längst verlernt haben. Also wird eine Firma „dafür“ beauftragt, also tritt Theodore, ein Künstler im Verfassen von besonders gefühlvoller „Post“, in Aktion. Dabei würde er wohl gerne auch einen „seiner Briefe“ mal bekommen, denn – Theodore befindet sich momentan in einer mentalen Krise. Die bevorstehende Scheidung von seiner Ehefrau Catherine (ROONEY MARA/“Verblendung“) setzt ihm zu.
Der hypersensible Bursche taumelt emotional angeschlagen durch die Tage. Und Nächte. Dies ändert sich schlagartig, als er ein neues Betriebssystem für seinen Computer installiert. Mit einem weiblichen Stimmen- und Stimmungslenker. Samantha (SCARLETT JOHANSSON unsichtbar als „The Voice“). Fortan blüht der verunsicherte Kerl auf. Denn Samantha besitzt nicht nur eine bezaubernde, verführerische Stimme, sondern ist auch mit einer „Künstlichen Intelligenz“ versehen, die ständig „wächst“. „Mit jeder Erfahrung“. Fortan sind sie ein „Paar“. Und erleben genau d i e gefühlvollen Aufregerdinge, die Zweisamkeit mit sich bringt: Austausch, Glück, Eifersucht, sogar Sex. Natürlich, ohne sich berühren zu können. Glücklich streift Theodore durch die Straßen „mit ihr“, zeigt ihr den Strand, nimmt sie auf Partys mit, hat Double Dates in ihrem Beisein. Mit Hilfe seines kleinen Kommunikationsknopfes im Ohr sowie dieses unscheinbaren Monitors in seiner Brusttasche, in der Nähe seines Herzens. Eine „echte Beziehung“, formuliert er gegenüber seiner nachbarlichen Freundin Amy (AMY ADAMS/“American Hustle“), die darüber keineswegs erstaunt ist, pflegt sie doch selber, nach einer „echten“ Beziehungsauflösung, intimen „Kontakt“ zu einer weiblichen Computerstimme. Doch „Partnerschaften“ sind nicht für ewig. Oftmals. Im On- wie im Off-Leben. Zumal wenn sie mit solch einem hochintelligenten „Wesen“ wie Samantha geführt werden. Erfährt Theodore. Bei seinem tragikomischen Liebestaumel. Auf seiner digitalen Gefühlswolke.
Eigentlich wäre/ist DAS doch wunderbar. „Real“ gibt es doch viel zu viele Scherereien. Zwischen den Geschlechtern. Bei ihren vielfältigen Bemühungen, Anstrengungen, einigermaßen miteinander klarzukommen. Mit einem „menschlichen Computer“ ist Realmensch doch viel besser „dran“. Kann seine Beziehung nach Beliebigkeit pflegen, abstellen, verändern, dirigieren oder korrigieren. Oder aber – man lässt sich fallen, von dieser Maschine dirigieren, manipulieren, lenken. „Emotional“ einfangen. Dann „macht“ SIE alles und der Mensch ist fein ‘raus. Kriegt alles vorgegeben. Wird sozusagen ständig gecoacht. Von wegen digitaler Betreuung. Einfach, bequem, lässig. Zeit- wie kostensparend. Denn dieser spezielle Partner ist wenig anspruchsvoll. In Sachen Klamotten, Nahrung, Luxus-Geschenke. Scheidung. Für Theodore ist die körperlose Frau toll. Sie bringt viel Verständnis für ihn auf, gibt ihm wertvolle Tipps, lenkt ihn besonnen und hilft ihm sogar, ein erfolgreiches Buch mit seinen hochemotionalen Briefen herauszubringen. Ist doch alles prima im Lot. Oder???
Sind wir nur bekloppt oder schon verrückt? Ob unserer hochgezüchteten technischen Revolution? Bei der immer mehr Unvorstellbares vorstellbar und machbar wird? Können oder sollen wir sogar dies künftig anpeilen? Zulassen? Auf der Lebens-Dauersuche nach Glück? Der Film „HER“ irritiert wundervoll. Selten so viel Bauch- und Kopfunruhe erlebt. Wenn man von den gerade aktuellen technischen Errungenschaften wie beispielsweise der neuen Daten-Brille hört? Die demnächst auftauchen wird und durch DIE wir viel mehr als Nur-Sehen sollen. Von wegen Daten aufnehmen, den Nachbarn „heimlich“ identifizieren, noch mehr erfahren, enttarnen, preisgeben. In Sachen: Die eigene Identität wird immer mehr gläserner. Bis zur endgültigen allgemeinen Offenlegung. Eine grausliche Vorstellung. Die Verwesung unserer Seelen. Ich habe vor 42 Jahren, anlässlich des Kinostarts des amerikanischen Films „Wer ist Harry Kellerman?“ von Ulu Grosbard (mit Dustin Hoffman), als Kritikfazit geschrieben: ES WIRD UNS IMMER BESSER GEHEN, ABER DABEI WERDEN WIR ZUNEHMEND VERELENDEN. Dies trifft auf diese packende, phantastische Science Fiction-Horror-Komödie gleichfalls zu. Immens zu.
Unsere Zivilisation, die ja immer mehr ein geradezu spirituelles Verhältnis zu den von ihr entwickelten Maschinen pflegt, entlässt sich selbst aus der emotionalen Verantwortung. Zeigt und sagt dieser Film. Und gibt zu be-denken: Was ist, wenn wir künftig immer mehr und dann vielleicht gleich ALLES den Maschinen überlassen? Wir können sie doch gut und immer kontrollieren? Sollte diesbezüglich doch mal etwas „falsch“ laufen. WIR haben sie ja schließlich erdacht, hergestellt? Oder? UND: Wann schaffen wir es und stellen „echte“ menschliche Maschinen her? Unsere nach unseren Wünschen ausgestatteten perfekten maschinen-menschlichen Ebenbilder? Als d i e Glücklichmacher aus Pixel-Metall? Samantha wäre doch so ein mentales technisches Seelenbeispiel. Für Beziehungen und mehr.
Was für ein wunderbar reicher und atmosphärischer Spannungsfilm! Wir entwickeln uns immer schneller fort und verlieren dabei – zunächst – unseren rationalen Verstand. Werden selbst Teil der modernen Mechanik. „HER“ ist einflussreiches, pragmatisches Fiction-Hörkino mit realem Geschmack, das über die kühnen Design-Motive (grandios: Ausstatter K. K. BARRETT/“Lost in Translation“ von Sofia Coppola), die exzellenten „Sauerstoffbilder“ des niederländischen Kamera-Asses HOYTE VAN HOYTEMA („Dame, König, As, Spion“) sowie natürlich über die beiden Hauptakteure plausibel wie begeisternd funktioniert. Wobei der weibliche Star ja nie „anwesend“ ist: SCARLETT JOHANSSON als „Die Stimme“ ist bildlich, also „personell“, aber durchaus vorstellbar. In ihrer jungen stimmlichen Sinnlichkeit, ihrer rationalen akustischen Verführung, in ihrer intelligenten Manipulation. Als schmucke verbale Maschinen-Mammsell Samantha.
JOAQUIN PHOENIX als ihr introvertierter Geliebter ist körpersprachlich sensationell. Zwischen tiefer Melancholie und heftigem Glück. Das volle sensible Gefühlsprogramm. Mal irritiert-depressiv, mal heftig andersrum. Mit viel Sehnsuchtspower. Nach seiner Partnerin „da drin“. Im Computer. Und der Frage, ob sie doch irgendwann „lebendig“ werden kann? Wird? Bei unseren immer schneller fortschreitenden Möglichkeiten, Gegebenheiten??? Als lebendiges Betriebssystem? Mit eigenständigem Willen? Und Wollen? Joaquin Phoenix gelingt es, mit minimalster Bewegung spannenden, faszinierenden, irritierend-„normalen“ Ausdruck und Sinn zu produzieren. Nach seinen vorzüglichen Auftritten als Johnny Cash in „Walk the Line“ (2005) und neulich als Philip Seymour Hoffmans Sektensklave in „The Master“ (2012) wartet er mit einer erneuten darstellerischen Glanzleistung auf (und wurde zum dritten Mal für einen „Oscar“ nominiert).
„HER“ ist ein überragendes filmisches Kino-Stück. Erzählt wunderbar von der aktuellen „wahnsinnigen“ Verwesungszukunft. Des Menschen und seiner Maschinen-Partner (= 5 PÖNIs).