ZIEMLICH BESTE FREUNDE

PÖNIs: (4,5/5)

„ZIEMLICH BESTE FREUNDE“ von Éric Toledano und Olivier Nakache (B + R; Fr 2011; K: Mathieu Vadepied; M: Ludovico Einaudi; 112 Minuten; deutscher Kino-Start: 04.01.2012); unter „normalen Umständen“ wären sie sich NIE begegnet. Natürlich nicht – der aristokratische, schwerreiche Monsieur Philippe, der in einem noblen Palais im ober-bürgerlichen Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Prés lebt, und der im Senegal geborene, in einem dieser Pariser Vorstadtghettos aufgewachsene, arbeitslose und kürzlich aus dem 6-Monatsknast entlassene Driss. Ein baumlanger schwarzer Typ, der seinen Kahlkopf gerne in die Kapuze packt und gerade bei Monsieur kurz mal vorbeigekommen ist, um seine drei Unterschriften zu bekommen, damit er das Sozialgeld weiter gezahlt bekommt. Dass ausgerechnet ER, HIER, in diesem Feudalbunker, den ausgeschriebenen Job als Pfleger bekommen würde … no, dies ist doch äußerst unwahrscheinlich. Doch Philippe, der adlige, gebildete Herr über eine ganze Schar von Hausbediensteten, findet Gefallen an diesem „ungehobelten Klotz“. Stellt ihn für zwei Wochen auf Probe ein. Für gutes Geld und imponierende Zimmer-Unterkunft. Mit eigener Badewanne. Ach so ja, Monsieur hat eigentlich alles, was das Luxus-Leben einem Menschen überhaupt bieten kann, mit einer Ausnahme: Er ist querschnittsgelähmt. Seit Jahren. Vom Hals an abwärts. Ein Unfall beim Gleitschirmfliegen. Seitdem ist er auf Dauerhilfe angewiesen. Findet, empfindet für diesen ungebildeten, schnoddrigen Hünen („Bleiben Sie sitzen, ich finde alleine raus“) erst Neugier, dann Sympathie. Obwohl dessen Qualifikationen eher „bescheiden“ sind. Und ein befreundeter Anwalt ihn warnt: Driss ist ein Krimineller. Und diese kennen bekanntlich kein Mitleid. „Genau das will ich aber: kein Mitleid“, begründet Monsieur Philippe seine „eigenartige“ Personal-Entscheidung. Die Geschichte kann beginnen: der elegante, gebildete, schwerst-behinderte, weiße Mann im Rollstuhl und sein ruppiger, dunkelhäutiger Begleiter. Mit seinem „feinen“ lakonisch-sarkastischem Humor („An ihrer Stelle würde ich mir die Kugel geben“/„Auch das ist schwer für einen Querschnittsgelähmten“, antwortet Philippe). Der im Schnelldurchgang die wichtigsten Handgriffe lernt. Und sich mit den verschiedenen Hausladies nach und nach ganz ordentlich versteht. Weil sie ihn einbinden können in diesen „außergewöhnlichen“ Alltag. Und ER diesen mehr und mehr „begreift“. Akzeptiert. Auf seine „unfertige“, bisweilen unorthodoxe pragmatische Hilfsweise.

Ein französischer Dokumentarfilm steht ganz am Denk-Anfang zu diesem Film. Er heißt „À la vie, à la mort“. DEN sahen 2004 die zusammenarbeitenden französischen Regisseure Olivier Nakache + Éric Toledano. In dem wird von PHILIPPE POZZO DI BORGO berichtet, dem ehemaligen Chef der Champagner-Dynastie Pommery. DER stürzte 1993, im Alter von 42 Jahren, mit dem Gleitschirm ab. Ist seitdem querschnittsgelähmt. Heuerte damals als Pfleger den arbeitslosen, algerischstämmigen Kleinkriminellen Abdel Sellou an. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Von der Beide profitierten: der körperlich Behinderte wie der soziale Außenseiter. Philippe Pozzo di Borgo lebt heute in Marokko. Ist dort mit einer Einheimischen verheiratet.

Mein Lieblingsfilm zu Weihnachten ist seit vielen Jahren der britische (ARD-)Klassiker „Der kleine Lord“. Weil er total positiv endet. Gut wird belohnt. Die Böse verliert. Ich brauche das. Emotional. Eigentlich nicht nur zu Weihnachten, aber immerhin. Wenigstens dann. Und dort. Träumen muss zeitweise einfach erlaubt sein dürfen. „Ziemlich beste Freunde“ ist die moderne Version vom „kleinen Lord“. Zwei „Behinderte“ raufen sich zusammen. Der König und der Rotzkopf. Adel versus Prolet. Prekariat. Eigentlich passen sie ja überhaupt nicht zusammen. Eigentlich. Von wegen Stand. Klasse. Bildung. Money. À la „der Intellektuelle und der freche Doofe“. „Der begüterte Poet und die arme Sau“. Doch DIE, die arme Sau, ist nicht nur „quasi dumm“, sondern auch oho. Wie es sich zeigen soll. Die sich das Brot nicht vom Teller nehmen lässt. Im Gegenteil: Der „Proll“ wird zum „inspirierenden Begleiter“, zur neuen Lebensweg-Orientierung für das behinderte Oberhaupt. Hört in der Oper seine „Klingeltöne“ und staunt. Und nicht nur dort. Sondern auch in der Galerie. Wo es für ihn plötzlich lebens-prägend „komisch“ wie „lukrativ“ werden soll.

Quatsch? Kitsch? Spinnerei? Kintopp? Märchen? Tendenz „Pretty Woman“ auf französisch??? No. Einfach der passende humane Spaßfilm zur heutigen Problem-Zeit. Es gibt in Frankreich eine Umfrage, nach der dieser Film vor allem wegen dreier Merkmale besonders geschätzt/gemocht wird: 1.) Wegen seines schrägen Humors; 2.) wegen seines Optimismus; 3.) wegen seiner Solidarität. Die gesellschaftliche Desorientierung ist derzeit (nicht nur) in Frankreich sehr hoch, Stichworte wie Rekordzahlen bei den Arbeitslosen; die lüsterne, provozierende Parallelwelt(en) der Reichen und Mächtigen; das Mehr-und-mehr-Abhanden-Kommen der Moral-Werte. Der Verlust von Wohlstand. Vom Sich-Wohl-Fühlen. Allgemein wie individuell. Da kommt so ein Film, in dem sich zwei „Klassenfeinde“ zusammentun und zeigen, dass es DOCH miteinander geht, gerade recht. So dass „Intouchables“, so der Originaltitel, „Die Unberührbaren“, seit seinem Kinostart Anfang November vergangenen Jahres bereits mehr als 16 Millionen Kinobesucher hatte. Zum erfolgreichsten französischen Kinojahresfilm 2011 explodierte. Binnen weniger (Restjahres-)Wochen. Gerade auf dem Weg ist, die 20 Millionen Zuschauer für „Willkommen bei den Sch’tis“ von 2008 noch zu toppen. Um erfolgreichster französischen Film aller Zeiten zu werden. Dies ist gewiss kein Qualitätsmerkmal, aber allemal „interessant“. Warum packt ein solch „normaler“ Film plötzlich so viele Menschen? Warum spricht er sie – ohne großes, schreiendes („Hollywood“-)Marketing im Schlepptau – dermaßen an? Cineasten wie Soziologen haben seitdem die volle Beschäftigung.

Für den hiesigen Kritiker gilt zu konstatieren, es mit einem großartigen „komischen“ Human-Film zu tun zu haben. Dessen emotionale Wirkung sich auch bei uns faszinierend wie atmosphärisch verbreitet. Denn der (nach u.a. “Die Draufgänger“/2005, mit Gérard Depardieu und “Hilfe, Ferien!“/ 2006), vierte gemeinsame Film von Olivier Nakache (38) und Éric Toledano (40) ist ein brillantes Doppelboden-Funkeln über einen köstlichen ironisch-sarkastischen Zusammenprall der Kulturen. Die, also die Kulturen, „plötzlich“ doch miteinander auskommen, wenn es denn notwendig wird. Wie hier. Im Kino. Auf der Leinwand. Indem die Autoren-Regisseure mit Klischees, Vorurteilen und Gefühlen glaubwürdig „hantieren“. Diese respektlos durcheinanderwürfeln. „Damit“ amüsant, provokant, aber unalbern spielen (lassen). Motto: Es lebe der gute alte Joint. Oder: Wo befindet sich eigentlich die erogene Zone bei einem Querschnittsgelähmten? Ohne Peinlichkeit(en) abzulassen, zu erzeugen, ohne großes Geschrei, ohne Polit-„Fahnen“. Also ohne aufgesetzte Gesellschaftskritik. Dafür mit toller Botschaft: Es kann IMMER etwas Positives sein, sich als Menschen zu begegnen. Egal, woher du kommst. Wer du bist. Was du bist. Wie du bist. In welchem „Zustand“ du dich befindest. Sei gleichberechtigt. Neugierig. Offen. Ein „Abenteuer“ ist es allemal, wie dieses Filmjuwel so utopisch-schön, aber nicht unrealistisch beweist.

Natürlich überzeugt DAS: Weil SIE so phantastisch „die Bühne“ füllen: Zum einen ER, dessen Gesicht aus unzähligen Filmen bekannt ist – FRANCOIS CLUZET, 56, der mit Regisseuren wie Claude Chabrol („Die Fantome des Hutmachers“), Bertrand Tavernier („Um Mitternacht“) und Robert Altman („Prêt-à-Porter“) gearbeitet hat und hier SEINEN bewegungslosen MEISTERAUFTRITT hat. Als Monsieur Philippe macht er die beschädigte Seele „mit Köpfchen“ ereignisreich sichtbar und lässt den Turbo im Rollstuhl prima los. „Sausen“. Genauso phantastisch aber ist auch sein heller Dunkel-Partner, der 31-jährige OMAR SY als lockerer Macho-Typ Driss. Der so wunderbar unangestrengt den coolen Boy herauspellt und bei den Klängen von Earth, Wind & Fire ausgelassen absteppt. Der hierzulande bislang unbekannte französische Akteur und Comedian katapultiert sich mit diesem Part in die Spitzenliga des einheimischen Depardieu-Nachwuchses. Und, zusammen: Was für ein einzigartiges schwere-loses Paar! Apropos: Der italienische Klangkünstler und Pianist LUDOVICO EINAUDI hat hierfür einen sehr passenden Soft-Soundtrack komponiert. Als virtuose Begleitung für dieses unterhaltsame, clevere Prachtstück. ALLES passt also zusammen bei diesem „Happy to Go“-Movie aus Frankreich.

Herrlich: Wir haben zum Jahresanfang 2012 gleich einen Knüller im Kino. Der inzwischen von über 50 Ländern angekauft wurde. Willkommen bei den French-Friends (= 4 ½ PÖNIs).

P.S.: In Deutschland erreichte der Film im Kino über 9 Millionen Besucher.

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