Das unbekannte Mädchen

DAS UNBEKANNTE MÄDCHEN“ von Luc Dardenne und Jean-Pierre Dardenne (B + R; Belgien/Fr 2015; K: K: Alain Marcoen; 106 Minuten; Start D: 15.12.2016); seit 1978 machen die belgischen Brüder Jean-Pierre (geboren am 21.4.1951) und Luc Dardenne (10.3.1954) gemeinsam Filme. Hochdekorierte Werke über normale Menschen. Aus normalem Milieu stammend, mit starken, spannenden Moral-Fragen.

Ihre Protagonisten: Einfache Zeit-Arbeiter, verzweifelte Arbeitslose, kriminelle Teenager-Eltern. In Cannes erhielten sie dafür zweimal die „Goldene Palme“ („Rosetta“/1999; „Das Kind“/2005); einmal dort den Drehbuch-Preis (2008 für „Lornas Schweigen“) sowie einmal den „Großen Preis der Jury“ (2011 für „Der Junge mit dem Fahrrad“, der auch den „Golden Globe“ gewann). Mit „Zwei Tage, ein Nacht“ (s. Kino-KRITIK) kam Ende Oktober 2014 ihr großartiger vorletzter Film hierzulande ins Kino.

In ihrem 10. Spielfilm, „Das unbekannte Mädchen“, auch wieder im Frühjahr im Wettbewerbsprogramm von Cannes erstmals präsentiert, setzen sie ihre Bemühungen um eine „moralische Unruhe“ fort. Im Mittelpunkt: Der anstrengende Alltag der jungen Ärztin Jenny Davin (Adèle Haenel), die vor drei Monaten die Praxis eines Kollegen in dem Armenviertel von Seraing in der belgischen Provinz Liège übernommen hat, direkt an einer Schnellstraße, die sich entlang eines Flusses durch ein zersiedeltes Industriegebiet zieht.

An diesem Wochenende soll „hier“ Schluss sein; Jenny will zu einer weit lukrativeren Arbeit in einem Gesundheitszentrum wechseln. Unter vielen Bewerbern wurde sie ausgewählt. Letzte Routine-Tätigkeiten. Als es lange nach Feierabend an der Praxis-Tür klingelt, öffnet sie nicht mehr. Was, wenn es ein Notfall ist, fragt ihr Praktikant. Dann hätte dort „nachdrücklicher“ um Einlass gebeten werden müssen.
Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass es sich offenbar tatsächlich um einen Notfall handelte. Denn die junge schwarze Frau, die klingelte, war – belegt durch Überwachungskameras – in Angst und auf der Flucht. Jetzt ist sie tot. Wurde in der Nähe ermordet. Obwohl alle Jenny erklären, dass sie völlig unschuldig an den Geschehnissen sei, hat sie Gewissensbisse. Beginnt mit eigenen, argwöhnisch beäugten Recherchen. Will herausbekommen, wer die Unbekannte war, wie sie hieß und was warum passiert ist. Aus der Ärztin wird „nebenbei“ eine intuitiv ermittelnde, engagierte „Schnüfflerin“. Die sich in Gefahr(en) begibt.

Die Fragen nach der persönlichen Schuld: Bedeutet „Heilung“ nur die Momente in der Praxis? Bedeutet die Ausübung des Arzt-Berufes auch „Hilfe“ innerhalb der Gesellschaft? Welche Bedeutung hat überhaupt „ärztliche Berufung“? Wenngleich die beharrliche Thesenhaftigkeit der Dardennes hier eher begrenzt-intensiv und überschaubar-spannend herüberkommt, gleicht dies die wunderbare Schauspielerin ADÈLE HAENEL vollends aus. Die 26jährige zweifache „César“-Preisträgerin („Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“/2014 und „Liebe auf den ersten Schlag“/2015) ist in der Figur dieser jungen, etwas naiven Ärztin der personifizierte „aufrechte Gang“: unerschütterlich, beharrlich, konsequent. Aus der Routine des Alltags ausbrechend, weil sie es „mindestens“ für angemessen hält. Und moralisch bedeutsam. Adèle Haenel interpretiert dies sehr überzeugend.

Sie ist der beherrschende Motor des Films; spielt dies mit einer exquisiten Mischung aus Durchsetzungsvermögen und Verletzlichkeit. Während die Brüder Dardenne diesmal auf eine zweiteilige filmische Gedanken-Wirkung setzen: Eben noch plausible Alltagsrealität um gesellschaftliche Relevanz, danach gesellschaftskritische Kriminalistik mit speziellem Spannungsfieber.

Überzeugend (= 4 PÖNIs).

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