ORLOW SEUNKE

TIP-Interview von Hans-Ulrich Pönack mit ORLOW SEUNKE, dem Regisseur von:

„DER BESUCHER (DE SMAAK VAN WATER)“ von Orlow Seunke (Co-B + R; NL 1982; Co-B: Dirk Ayelt Kooiman; nach dem Roman „Der Besucher“ von Gyorgy Konrad/1969; K: Albert van der Wildt; M: Maarten Koopman; 100 Minuten; deutscher Kino-Start: 06.05.1983: s. Kino-KRITIK).

TIP: Wir kennen Sie hier kaum. Es wäre nett, wenn Sie uns kurz einmal Ihren bisherigen Werdegang schildern würden.

Seunke: Ich bin 30, Jahrgang 52, und von 1971 bis 75 bin ich auf der Filmakademie in Amsterdam gewesen.

TIP: Waren Sie vorher schon leidenschaftlicher Kinogänger?

Seunke: Ja. Vom zwölften, dreizehnten Lebensjahr an wusste ich, dass ich Filmemacher werden wollte.

TIP: Wie das?

Seunke: Das weiß ich nicht. Aber ich habe nie eine andere Arbeit getan. Bin nur immer ins Kino gegangen, wollte Filme schreiben, Filmemacher werden.

TIP: Und ging das so komplikationslos: gleich von der Schule zur Akademie?

Seunke: Ja.

TIP: Gibt es da keine Aufnahmeprüfungen?

Seunke: Doch. Tausende Leute bewerben sich und nur dreißig werden genommen.

TIP: Und Sie sind gleich angenommen worden?

Seunke: Ja. Ich hatte zeichnerische Entwürfe gemacht, und einen 8-mm-Film, und ich hatte viel geschrieben.

TIP: Moment mal, vorher schon, während der Schulzeit?

Seunke: Ja. Aber nur 8-mm-Filme. Außerdem hatte ich bei Filmproduktionen assistiert. Und ich wollte immer nur Filme machen. Ich kannte alle Filme, die bei uns zu sehen waren. Beispielsweise alle Bergman-Filme. Zweimal in der Woche war ich im Kino. All mein Geld habe ich für Filme ausgegeben.

TIP: Haben Sie während der Akademie-Zeit auch Filme gemacht?

Seunke: In diesen vier Jahren habe ich acht Filme gemacht. Die sind auch in Skandinavien und im deutschen Fernsehen gelaufen. Und mit dem bisschen Geld, was ich dafür bekommen habe, habe ich wieder einen neuen Film gemacht. Für zweitausend bis viertausend Mark.

TIP: Was waren das für Filme?

Seunke: Das waren Spielfilme. Ich habe nur Spielfilme gemacht.

TIP: Mit welchen Themen?

Seunke: Die Filme waren schon experimentell – aber immer mit einer Geschichte. Ich liebe Geschichten. Aber sie waren immer ein bisschen nicht-realistisch. Ich habe zum Beispiel einen Film an einem kleinen Bahnhof auf dem Land gemacht. Mitten in den Feldern. Und da sind zehn Leute, die warten. „Warten auf Godot“, diese Atmosphäre. Sie warten auf einen Zug. Aber er kommt nicht.

TIP: Wie hieß der Film?

Seunke: „Twisk“, er entstand 1974, eine fünfzehnminütige 16-mm-TV-Produktion, die auf den Festivals in Grenoble und Rotterdam lief. Und als der Zug endlich dann kommt, fährt er einfach vorbei. Und die Leute müssen wieder 20, 30 Jahre auf einen neuen warten. Es gibt kleine Fellini-Momente in diesem Film. Die Leute hänseln sich gegenseitig. Da herrscht eine beklemmende Atmosphäre. Der Film hat eine Story, aber er ist nicht wirklich realistisch. Es ist mehr das Problem im Gefühl. Eigentlich das gleiche wie im „Besucher“. Es ist also das Problem und das Gefühl, das ich den Zuschauern klarmachen wollte. Ohne künstlich zu sein und ohne Kunst zu machen, ohne was vorzumachen.

TIP: Was fasziniert Sie daran gerade solche Filme zu machen?

Seunke: Ich glaube, dass jeder Film, der eine realistische Atmosphäre vermitteln möchte, zu nahe an unserer Realität ist. Wenn man das will, sollte man besser einen Dokumentarfilm drehen. Wenn du einen Feature-Film machen willst, dann solltest du so ehrlich sein und wirklich einen Feature-Film machen. Darum sage ich klar und deutlich: Das ist meine Art Filme zu machen, das ist mein Film. Wie ich es von Chaplin oder Keaton gelernt habe. Die waren nicht realistisch, und das war ihre Art von Film.

TIP: Aber Chaplin und Keaton waren auch lustig. „Der Besucher“ ist alles andere als lustig.

Seunke: Ich habe in den letzten zehn Jahren etwa 20 Filme gemacht. Fürs Fernsehen. Und ich habe hauptsächlich Komödien gemacht. Aber solche, die kein großes Gelächter hervorrufen. Eher so wie bei Keaton: Du lächelst über kleine Witze.

TIP: Also eher hintergründiger, tiefsinniger Humor.

Seunke: Ja. Und immer über menschliche Dinge. Man erkennt immer die Person dahinter, kann sich identifizieren: Lieben, hassen, kleine Gefühle.

TIP: Es überrascht eigentlich, wenn ein Dreißigjähriger heute sagt: Ich will keine realistischen Filme machen, sondern meine Filme sollen viel mit Emotionen zu tun haben. Dabei kommen aus Ihrer Generation doch auch sehr oft die knallharten, realistischen Filme, die auch politisch sehr einseitig sind.

Seunke: Fellini zum Beispiel macht keine realistischen Filme – aber er macht Filme über die Realität. Über Gefühle, über die Beziehungen zwischen Menschen. Genau das möchte ich auch machen. Auf meine Weise. Wir haben die Technologie im Film, wir können sie weiterentwickeln. Aber die endgültige, perfekte Form davon ist der kommerzielle Werbefilm. Aber der hat kein Gefühl. Deshalb glaube ich, dass es Zeit ist, zu den Dingen zurückzufinden, die wir gelernt haben. Auf das zurückgehen, wofür wir auf der Welt sind: Beziehungen zueinander haben.

TIP: Wie kam es zum „Besucher“?

Seunke: Ich habe „Light in August“ von William Faulkner gelesen. Das hat nichts mit dem Film zu tun, aber es hat etwas mit dem Gefühl zu tun, etwas Gutes zu tun. Aber gleichzeitig auch mit dem Gefühl, ohnmächtig zu sein, es nicht kontrollieren zu können. Du denkst, du tust etwas, kannst es aber nicht vollenden. Wegen der Umstände. Und das Gefühl kam so stark, dass ich beschloss, darüber einen Film zu machen. Und dann entsteht etwas. Du liest das Buch „Der Besucher“ von György Konrad und so weiter.

Natürlich: Ich lebe in Holland. Ich bin nicht gegen das soziale System, wir bezahlen die Steuern dafür. Aber das soziale System ist so überorganisiert. Darum denken wir, dass wir uns nicht mehr um die Anderen kümmern müssen, weil wir ja Heime für alte Leute haben, oder für Geisteskranke. Solche Dinge beginnt man plötzlich zu sehen. Außerdem habe ich vor 2 Jahren einen Film über eine Großmutter gemacht, die 78 ist und sich in einen 76-jährigen Mann verliebt hat. Und sie beginnen ein neues Leben. Ich würde den Film gerne nach Deutschland verkaufen, aber ich bin vor lauter Filmemachen noch nicht dazu gekommen. Es ist schön zu sehen, dass alte Menschen eine neue Jugend haben können, dass man sie nicht einfach wegtun kann. Man kann von ihnen lernen, sie sind weise und clever. Sie haben Lebenserfahrung … und all diese Dinge.

Und so kam ich auch dazu, mehr und mehr über diesen Film nachzudenken: dass ein Teil dieses überorganisierten Systems einfach gefährlich ist, dass man sich nicht mehr um andere kümmert. Und der Darsteller des Hes, Gerhard Thoolen, war über viele Jahre in dieser Arbeit engagiert und wollte das unbedingt machen. Er wollte eine Geschichte über eine Beziehung zwischen Menschen, wo man sich viel Beachtung schenkt und viel Liebe. Das war ein persönliches Anliegen von ihm. Er sprach viel darüber und schrieb es ins Drehbuch. Es gab in den 4 Jahren des Herstellens dieses Projektes zehn Drehbuchversionen – und es wuchs und wuchs.

TIP: Und war dann gleich jemand bereit, das Ganze zu finanzieren?

Seunke: Ich produziere meine Filme stets selbst, ich stecke also mein eigenes Geld in meine Filme.

TIP: Wieviel hat er gekostet?

Seunke: Umgerechnet rund 700.000 Mark.

TIP: Und alles Privatgeld?

Seunke: Nein, nein, nur steckt da kein fremder Produzent mit drin. 60 Prozent bezahlt der Staat aus einem Fond, 40 hat der Produzent, also ich, zu bezahlen. Allerdings vom Fernsehen gibt es wiederum zwei Drittel von diesen 40%, damit sie es in 2 Jahren senden können. Das ist recht einfach.

TIP: Einfach?

Seunke: Für mich schon, weil ich fürs Fernsehen bereits gearbeitet habe, und weil die mir vertrauen und Geld geben. Das klingt natürlich auch einfach, 60 Prozent vom Staat. Aber das ist das Schwerste. Es gibt bei uns in Holland etwa 40 Filmemacher, die unterstützt werden wollen. Aber es werden pro Jahr immer nur sieben Filme produziert.

TIP: Und wie wird das verteilt, wer kommt ans staatliche Geld?

Seunke: Es geht nur, wenn sie das Drehbuch akzeptieren und dem Produzenten vertrauen. Es muss nicht kommerziell sein, es kann auch experimentell sein, alles Mögliche – aber es muss gut sein. Mich kennen die Leute, das ist mein Vorteil, aber es gibt auch drei oder vier Debütanten im Jahr.

TIP: Wie waren/sind die Publikumsreaktionen in Holland? So ähnlich wie bei uns?

Seunke: Ja. Die Reaktionen sind absolut die gleichen. Es gibt Diskussionen über den „engagierten Teil“, dass man sich mehr umeinander kümmern soll, und die Leute sind sehr betroffen. Sie reden darüber, sie denken darüber nach. Wenn ich das anmerken darf, der Film lief 15 Wochen im Premieren-Kino.

TIP: Sie erklären nicht, in welchem Land und zu welcher Zeit Ihr Film spielt. Und ich musste manchmal an Kafka denken.

Seunke: Ich bin so ehrlich zu sagen, dass ich ein Dieb bin. Ich klaue immer. Wenn ich Filme sehe, mache ich mir Notizen. Wenn man etwas über die Bürokratie macht, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du legst es in die Zukunft, mit weiten Räumen, steril, mit Plastik, oder du machst es mit Kafka. Und als ich überlegte, welche Atmosphäre in diese Geschichte passt, war ich bei Kafka.

Zur anderen Sache, bezüglich des Ortes, wo das spielt. Mir ging es nur darum, klar und deutlich zu machen, dass es sich hier um ein Gebäude handelt, in dem Menschen arbeiten, die für jede Art von Hilfsmöglichkeiten zuständig sind. Nun konnte die Geschichte beginnen. Natürlich ist das dann dabei Gezeigte auch ein holländisches Problem. Aber es geht nur darum, dass das Problem und die Gefühle erkennbar sind. Und das muss nicht heißen, dass auch die Umstände erkannt werden müssen.

Wenn ich diese Geschichte exakt im Jahre 1983 hätte spielen lassen, dann hätten sich Ärzte um das Mädchen kümmern müssen, es wäre ein wissenschaftlicher Film geworden. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte, dass das Mädchen mit dem Mann zusammen kam. Darum geht es, und nur darum.

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