The Music Never Stopped

THE MUSIC NEVER STOPPED“ von Jim Kohlberg (Prod.+R; USA 2010; 105 Minuten; Start D: 29.03.2012); ich könnte ausflippen…, vor Begeisterung. Denn dieser „völlig überraschende“ Film ist genau solch ein „Sleeper“, wie man ihn sich ab und an erhofft: „Sleeper“ sind kleine GROSSE Kinofilme, auf die man „vorher“ nicht „setzt“. Weil sie vom Titel her, vom Namen des Regisseurs her sowie zunächst „und überhaupt“ „nichts sagen“. Filme, die mit „wenig Geschrei“ daherkommen. Müssen. Weil nicht viel Geld da war und ist. Und wenn man dann solch einen „Sleeper“ erwischt, ist die Freude groß. Typische Sleeper-Movies waren in den letzten Jahren Entdeckungen wie „Eldorado“ aus Belgien, „Juno“ und „Little Miss Sunshine“ aus den USA, „Vitus“ aus der Schweiz oder „Kleine Wunder in Athen“ von Filippos Tsitos, eine feine Co-Produktion D/Griechenland. Wunderbare Entdeckungen. Wozu nun auch dieses Independent-Juwel aus den USA zählt. Das im Vorjahr beim renommierten „Sundance Festival“ seinen Start hatte. Um dann auf weltweite „Tournee“ zu gehen.

„The Music Never Stopped“ ist das Regie-Debüt des unabhängigen amerikanischen Produzenten Jim Kohlberg. Der mit seiner Dokumentation „TRUMBO“ – über den legendären Hollywood-Drehbuch-Autor Dalton Trumbo, der einst auf der „Schwarzen Liste“ des Kommunistenjägers Senator McCarthy stand – 2007 für gutes Aufsehen sorgte. Seinen Spielfilm-Erstling könnte man charmant als das „ZIEMLICH BESTE FREUNDE“-Pendant aus den USA bezeichnen. Denn darum geht es hier: ZWEI, hier Vater und Sohn, die sich auseinanderdividiert haben, finden „ungewöhnlich“ wieder zusammen: Über DIE Musik. Über den Rock ´n Roll. Aber der Reihe nach.

Am Anfang steht ein Essay. Über eine Fallstudie. Von Dr. OLIVER SACKS. Der am 9. Juli 1933 in London geborene Neurologe und Schriftsteller wurde international durch seine populärwissenschaftlichen Bücher bekannt, in denen er anhand von Fallbeispielen anekdotisch wie allgemeinverständlich über komplexe Krankheitsbilder schrieb. Berichtete. Sowie über deren „außergewöhnliche“ „Heilmethoden“. Hollywood-Filme wie „Zeit des Erwachens“ (1990/mit Robert De Niro + Robin Williams) und „Auf den ersten Blick“ (1999/mit Val Kilmer + Mira Sorvino) basieren auf der Literatur, der medizinischen Arbeit und den Erkenntnissen von Dr. Sacks. 1995 veröffentlichte er in seinem Buch „Eine Anthropologin auf dem Mars“ eine Kurzgeschichte unter dem Titel „The Last Hippie“. Diese ist der Ausgangspunkt für dieses großartige filmische Seelen-Stück:
„Der Film ist ein bewegendes Zeugnis nicht nur auf die Liebe zwischen einem Vater und seinem Sohn, sondern auf die wundersame Kraft der Musik, ein beschädigtes Gehirn zu heilen. Erinnerung an Musik ist ganz in der Gegenwart. Solange sie dauert, vermag sie sogar den Abgrund der extremen Amnesie oder Demenz zu überbrücken. MUSIK KANN MÄCHTIGER SEIN ALS ALLE DROGEN“ (Dr. Oliver Sacks).

Die Eheleute Helen + Henry Sawyer (Cara Seymour + J.K. Simmons) haben sich mit ihrem Sohn Gabriel vor langer Zeit zerstritten. Vor allem zwischen Vater und Sohn „zoffte“ es. In Sachen allgemeiner wie privater Lebens- und System-Werte. Also in der wandelbaren politischen (An-)Sicht ebenso wie vor allem auch in der „begleitenden Musik“. Beide vereinte über Jahre leidenschaftlich das gemeinsame Musik-Hören. Doch nach einem heftigen Streit mit seinem Vater verließ Gabriel einst das Elternhaus. Schloss sich der Anti-Vietnam-Protestbewegung an. Für ihn waren nicht mehr die „väterlichen“ Evergreens der Fifties wie zum Beispiel Bing Crosby wichtig, sondern nunmehr The Beatles, The Rolling Stones oder Bob Dylan. Und „The Grateful Dead“. Fast zwanzig Jahre später, 1986, ereilt die Eltern ein Anruf. Aus dem Krankenhaus. Gabriel leidet unter einem Gehirntumor. DER ist zwar gutartig, hat aber sein Erinnerungsvermögen schwer beschädigt. Hat insbesondere dem Kurzzeitgedächtnis schlimm zugesetzt. Gabriel (Lou Taylor Pucci) ist zu einer hilflosen Person geworden. Dessen Lebensgeister nur dann „erwachen“, wenn er Rock-Klassiker vernimmt. Hört. „Empfindet“. Wie die engagierte Musiktherapeutin Dr. Dianne Daly (JULIA ORMOND) herausfindet. Mit „Unterstützung“ des Beatles-Hits „All You Need Is Love“ kriegt sie ersten Zugang zu ihrem Patienten. Um endlich wieder „richtigen“ Kontakt zu seinem Sohn zu bekommen, beginnt der Vater mit einer eigenen „Therapie“: Befasst sich fortan eingehend mit „der Musik“ seines Sohns und taucht neugierig, verblüfft und mehr und mehr „angetörnt“ in die Rock-Welt von Gabriel ein und ab. Entdeckt, dass Bands wie Cream, Crosby, Stills & Nash, Steppenwolf und vor allem The Grateful Dead sowie Idole wie Bob Dylan, Donovan oder Peggy Lee ihm selbst etwas „mitteilen“. Bedeuten können. Schließlich ergattert er sogar Karten für ein ausverkauftes Grateful Dead-Live-Konzert, der Rock-Band aus San Franzisco. Vater und Sohn finden „so“ nach vielen Jahren endgültig zusammen. Die Musik macht’s möglich. Phantastisch.

Ein ruhiger Film. Ein heißer wie unsentimentaler, gefühlsehrlicher Stoff. Der sich wie eine Reise entwickelt. Also erwartungsvoll. Neugierig. Zunächst weitgehend unspektakulär. Behutsam. Nichts überstürzend. Sondern mit Bedacht. Anreise. Schauen. Empfinden. Erstes Berührungsatmen. Dann die aufkommende Lust. Die gute Seelen-Laune. Mit viel Glucksen. Spaß. Zahlreichen Verblüffungen. Dann – der Höhepunkt. Live ist Life! „Ziemlich beste Freunde“. Endlich. Hat ewig gedauert. Viel Zeit wurde vertan. Die Musik ebnet den Weg. Zurück. Zur Zusammengehörigkeit. Wieder. Zur Freundschaft. Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Gibt das Leben bisweilen vor. Mit einer satten Musik-Performance: Denn neben der Pop-Klassikern von Dylan & Co. sind es vor allem die Songs der GRATEFUL DEAD, die zünden. Als klangvoller Motor. Mit insgesamt 6 Songs sind sie vertreten. Darunter drei bisher unveröffentlichte Live-Aufnahmen (von 1971 und 2 x von 1989). Natürlich – allein schon der SOUNDTRACK ist hier phänomenal. Sensationell.

ER heißt Jonathan Kimble Simmons. Wurde am 9. Januar 1955 in Michigan geboren. Sein „Nebendarsteller“-Gesicht ist dem Kinobesucher und TV-Serien-Experten („The Closer“) viel bekannt, sein Name – bislang – allerdings weniger: J. K. SIMMONS, wie er sich nennt, trat zum Beispiel in den bisherigen 3 „Spiderman“-Abenteuern als Boss von Peter Parker auf. Jason Reitman besetzte seinen Freund u.a. in „Thank You For Smoking“, „Juno“, „Up In The Air“. Zuletzt tauchte er als Priester-Bruder in der bei uns (kürzlich) auf DVD erstaufgeführten US-Ironie-Komödie „A Beginners Guide To Endings“ auf. Ein, wenigstens bisher, „unauffälliger“ Klasse-Dahinter-Typ, der sich nun endlich einmal „ausführlich“ wie großartig Charakter-präsent zeigen darf. Und die Chance prächtig nutzt: Vom konservativen Autoritäts-Alten zum intensiven Lust-Oldie. Sein Dad Henry ist eine Wonne von Melancholie und Würde. Ist ein kluger Kraftkerl von „bekehrbarem“ Sühne-Vater. Der über den besseren, also zeitlosen Rock ´n Roll Zugang zu seinem Sohn wieder findet. Und dabei auch viel eigenen Lebens-Spaß „überrascht“ entdeckt. Herrlich!: WIE das J.K. Simmons unangestrengt, amüsant, „zerbrechlich“ präsentiert, so voller Erstaunen und wunderbar balancierter Emotionalität. Ohne jede Schmalz-Peinlichkeit. Eine grandiose, glaubwürdige Darstellung. Ebenso wie DIE von LOU TAYLOR PUCCI als „weggetretenem Sohn“ Gabriel. Pucci, bekannt aus den Filmen „Beginners“ (2010) und „Thumbsucker – Bleib wie du bist“ (2005), trifft hervorragend den sensibel-apathischen Körpersprachen-Ton dieser „musikalischen Seele“.

„The Music Never Stopped“ = 1.) Ein charmantes, respektvolles, berührend-spannendes Menschen-Drama. Als 2.) köstliche wie clevere Rock ´n Roll-Therapie. Zur unterhaltsamen „Benutzung“ dringend empfohlen (= 4 ½ PÖNIs).

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