LINDSAY ANDERSON / „BRITANNIA HOSPITAL“ (1984) sowie „IF…“ und „O LUCKY MAN!“

BRITANNIA HOSPITAL“ von LINDSAY ANDERSON (GB 1982; B: David Sherwin; K: Mike Fash; M: Alan Price; 103 Minuten; deutscher Kino-Start: 15.06.1984).

In der ganzen Welt gibt es eine bestimmte Gruppe von Regisseuren, deren Werke durch sich selbst zum Ereignis werden. LINDSAY ANDERSON (17.April 1923 – 30. August 1994) ist einer von ihnen, obwohl er bisher nur sechs Spielfilme geschaffen hat. Aber sie alle sind Meilensteine nicht nur der britischen Filmgeschichte. „Britannia Hospital“ bedeutet darüber hinaus aber auch den Abschluss einer Trilogie, die 1968 ihren Anfang hatte (“If…“), 1973 fortgesetzt wurde (“O Lucky Man!“) und schließlich 1982 ihr grandioses und jetzt erst in unseren Kinos zu erlebende Finale fand.

Lindsay Anderson wurde 1923 in Indien geboren und im Cheltenham- und Wadham College in Oxford erzogen. Er diente bei den 60th Rifles und im Geheimdienst. Nach dem Krieg kehrte er nach Oxford zurück, um Englisch zu lehren, Mit einigen filmbesessenen Freunden gründete er die Filmzeitschrift “Sequence“ und begann zu schreiben und zu redigieren (Mit seiner
Vergangenheit als Filmkritiker ähnelt Anderson anderen herausragenden internationalen Filmemachern wie beispielsweise Satyajit Ray oder François Truffaut). Kurz nachdem er angefangen hatte, über Filme zu schreiben, begann Anderson auch, Filme zu drehen. 1948 übernahm er Drehbuch, Regie und Schnitt für eine Serie von Industriefilmen im Auftrag von Richard Sutcliffe, einem Hersteller von Förderanlagen für Kohlenbergwerke und Fabriken. “Der Nutzen dieser Arbeit war, dass ich lernte, in jeder Funktion etwas zu leisten, sozusagen mit meinen eigenen Händen. Weil man herausgefordert wird, sich in jeder einzelnen von einem halben Dutzend Funktionen zu beweisen, ist der Dokumentarfilm noch immer die beste Schule“. Obwohl es in allen diesen Filmen um Fertigungsprozesse ging, war in ihnen immer ein starkes Interesse für Menschen sichtbar, selbst in den Maschinen-Sequenzen werden die Fabrikarbeiter als Individuen gezeigt und beschrieben. Deshalb war es auch für Anderson ein logischer Fortschritt, in seinen weiteren Arbeiten in den Fünfzigern diese Linie konsequent weiterzuverfolgen und Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit zu zeigen.

1953 schuf er den Streifen “Thursday‘s Children“, der von schwerhörigen Kindern handelt, und bekam dafür einen “Oscar“ für den “besten Kurzfilm des Jahres“. 1957 entstand mit “Every Day Except Christmas“ ein wenig schmeichelhaftes Porträt von Leuten in einem Vergnügungspark an der See, das mit dem 1. Preis beim Dokumentarfilm-Festival in Venedig bedacht wurde und “das herbe Element in Andersons Auffassung vom Menschen“ offenbarte (Buchers Filmenzyklopädie). Die meisten dieser und weiterer Filme wurden in den Programmen gezeigt, die unter der Bezeichnungen “Free Cinema“ liefen und die Anderson und sein Freund Karel Reisz zwischen 1956 und 1958 im National Film Theatre in London veranstalteten. Die “Free Cinema“-Programme bewirkten einen WandeI in den Sehgewohnheiten der englischen Kinogänger. Man sah dort Kurzfilme von den Regisseuren Reisz und Tony Richardson zu einer Zeit, als noch keiner von ihnen einen Spielfilm gemacht hatte, ebenso wie frühe Filme der französischen “Nouvelle Vague“ der Regisseure Francois Truffaut oder Claude Chabrol. Sie riefen zu einer neuen Freiheit im Kino auf, waren eindringlicher, freier, lebensnaher.

Anderson, der nicht weiterhin seinen Lebensunterhalt mit Prestige-Werbung für Benzinmarken und internationale Fluggesellschaften verdienen wollte, kam dann vorerst vom Film ab und ging zum Theater, “um mein Regietalent für Bühnenstücke zu erproben“. Erst 1963 kehrte er wieder zum Kino zurück, um endlich seinen ersten Spielfilm zu realisieren: “This Sporting Life“, der von den meisten Kritikern geradezu schwärmerisch besprochen wurde und für den Richard Harris den Darsteller-Preis beim Filmfestival in Cannes (und eine “Oscar“-Nominierung) erhielt. Fünf Jahre aber mussten erst wieder vergehen, bevor Lindsay Anderson endlich den Freiraum bekam, den er verlangte und benötigte, um seinen zweiten abendfüllenden Spielfilm zu drehen:
If…“ (GB 1968; 111 Minuten; Start D: 12.09.1969); ein Meisterwerk, mit dem er dann endlich auch internationale Anerkennung fand (s. KRITIK).

Die Rebellion des Mick Travis beginnt 1968. Anlässlich der 500 Jahr-Feier seines Colleges steigen Travis und ein paar Gleichgesinnte auf das Dach der ehrwürdigen Traditionsstätte, um gegen das unmenschliche, autoritäre Herrschaftsregiment an dieser Bildungsanstalt zu demonstrieren Man hat irgendwo Waffen gefunden und beginnt nun mittenmal auf jeden zu ballern, der sich auf dem Schulhof sehen lässt. Zu lange waren die physischen und vor allem psychischen Schmerzen eines Instituts auszuhalten gewesen, das eine militärähnliche Hierarchie, üble körperliche Züchtigungen und sexuelle Verunglimpfungen (auch durch den Vertreter Gottes) als Grundlage für Bildung und Erziehung, für die “Menschwerdung“, für gut hieß. “Gewalt und Revolution sind die einzig reinen Handlungen“, lautete damals das Motto einer langsam aufbegehrenden, meuternden Generation “If…“ löste damals auf der Insel eine Welle von Empörung und Entsetzen aus ob der “hemmungslosen Verdammung heiliger Traditionen wie Disziplin,
Moral und Religion“, fand aber auch zahlreiche Verteidiger und cineastische Bewunderer, während hierzulande der Film mehr als exotisch betrachtet und beurteilt wurde. Anderson, der ja ein Bildungssystem angriff, durch das er einst selbst geschleust und gedrückt wurde, sei doch zu weit gegangen, hieß es, und “so etwas“ gäbe es doch in der Wirklichkeit gar nicht, wurde vielfach abgeschwächt. “Man muss schon einige Male sehr aufmerksam auf die Leinwand sehen, um sicher zu sein, dass das Geschehen, das dieser Film zeigt, in der Gegenwart spielt. Alles Drum und Dran wirkt wie hundert Jahre alt“, die ersten Worte der Rezension im renommierten ‘Film-Dienst‘ nach der bundesdeutschen Kinopremiere im September 1969.

Fünf Jahre später treffen wir in „O Lucky Man!“ (GB 1973; 183 Minuten; Start D: 21.12.1973; hiesiger Kinotitel auch: “Der Erfolgreiche“) wieder auf Mick Travis. Die Schule ist geschafft, der Aufruhr überstanden, aber schon mit deutlichen Spuren von Müdigkeit und Anpassung. Travis, wieder von der brillanten Anderson-Entdeckung Malcolm McDowell (dem “Uhrwerk Orange“-Helden) prächtig gespielt und mit autobiographischen Zügen geformt, ist Kaffee-Vertreter geworden und saust durch das Land, um die Leute mit seinem Produkt zu beglücken. Aber in welchem Zustand ist das Terrain, sind die Leute, die es bewohnen, beschützen und regieren? Travis ist auf einer Albtraum-Odyssee, lässt zunächst alles willen- und meinungslos mit sich geschehen und bringt es auch sogleich bis zum Privatsekretär eines Wirtschaftsbonzen, stürzt aber ab, als er nachhakt, erste Fragen formuliert, landet unversehens im Zuchthaus. Als ein Bekehrter verlässt er zwar die Gefängnismauern, philosophisch und moralisch nun fürs erwachsene Zivilisationsdasein bestens ausgestattet, doch mit einem behafteten Makel: er vermag nun nicht mehr zu lächeln, geschweige denn zu lachen. Doch beim Film, wo er nun landet, muss man beides auf Verlangen vorweisen können. Also haut ihm der Regisseur Anderson solange das Drehbuch auf den Schädel, bis der Junge wieder sein freundliches Grinsen aufsetzt. So geht das nun mal im Kino zu (= 5 PÖNIs).

Neun Jahre darauf, 1982, ist Mick (natürlich wieder von Malcolm McDowell vorgeführt) zum Sensationsreporter beim Fernsehen aufgestiegen. Und wie schon bei “If…“ ist es wiederum eine 500 Jahr-Feier, die Helden wider Willen in Aktion treten lässt. Ein altes, ehrwürdiges britisches Hospital wappnet sich gerade zu einer großen Festlichkeit für fünf Jahrhunderte Dienst an der Allgemeinheit. Aber in welch einer Katastrophenzeit befinden wir uns heute? Vor dem Haus haben sich aggressive Streikposten breitgemacht, die alles kontrollieren, was rein und raus will. Hektik und Unruhe liegen in der Luft. In einem Krankenwagen liegt einer, der offensichtlich schnell unters Sauerstoffzelt kommen muss, wenn er überleben soll. Aber erst müssen die Gewerkschaftsposten ihr Okay geben, und dann denken die Pfleger drinnen nicht im Geringsten daran, sich des Patienten anzunehmen. Es ist Feierabend, und die Ablösung soll sich gefälligst darum kümmern. Der auf der Bahre krepiert derweil. Dermaßen “fröhlich“ stimmt uns Anderson mit seiner neuesten, letzten Zivilisationsparabel ein, während im Hintergrund schöne klassische Musik sanft dudelt. Und es geht weiter in dieser makaberen, treffenden Tonart. Der hochherrschaftliche Königshausbesuch wird über mehrere Rot-Kreuz-Wagen (vermummt auf Liegen, Rollstühlen und die Königin-Mutter sogar in einem Zinksarg) ran gekarrt, damit ja nur diese Feierlichkeit stattfinden kann, während der eifrige Verwaltungschef wie besessen “sein“ Haus reinzuhalten versucht (“Aufgeben? Niemals. Es ist mein Leben, meine Frau, Mutter, Kind, ich habe ihm alles geopfert“), schon mal “schnell nebenbei“ einen streikenden Elektriker erschlägt und mit korrupten Arbeitervertretern linke Abmachungen trifft (und Orden und First-Class-Sitzplätze verteilt).

Den tobenden “Brüdern und Schwestern der internationalen revolutionären Bewegung“ vor dem Tor, denen es um die Privilegien der Privatpatienten geht, wird dann schon mal um des lieben Frieden willens die Luxus-Klasse geopfert, derweil Mick Travis plötzlich in arge Schwierigkeiten gerät. Die haben ihn im Haus erwischt, kurzerhand einfach kaltgestellt und wollen ihm nun buchstäblich an den Kragen. Prof. (“J.M.“) Millar, der gerade den neuen künstlichen Menschen vorbereitet, braucht noch einen frischen Kopf… Und so
tragisch endet nun das beinahe 25jährige (Kino-)Leben dieses Mick Travis, der doch im Grunde eigentlich auch nur mal ein Stück vom großen Kuchen abbeißen wollte und sich dabei in die Netze der modernen Wissenschaft verfing. Die Anderen aber sitzen schließlich friedlich vereint und staunend im sterilen Hörsaal beieinander, wo der moderne Professor Frankenstein laut und deutlich die Zukunft präsentiert.

Natürlich, “Britannia Hospital“, das ist das Land, speziell: die Insel, das ist aber auch der Momentan-Zustand, der Fortschritt, unsere Errungenschaft in Sachen “Erde“, so wie sie sich heute darbietet. Alles ist am Zerbröckeln, Einstürzen, Auseinanderfallen. “Was hat der Mensch aus seiner Überlegenheit, seiner Intelligenz eigentlich im Laufe von Jahrzehnten gemacht?“, lässt Anderson den Experimentierdoktor am Ende in einem beißenden, wütenden Rundumschlag lauthals fragen. “Seit dem Ende des letzten Weltkrieges herrschte nicht einen Tag lang Frieden auf dieser Erde. In 230 anderen Kriegen haben Menschen sich gegenseitig abgeschlachtet und verwundet“, wird bitterböse Bilanz gezogen. “Am Ende dieses Jahrhunderts wird sich die Bevölkerung unserer Welt verdreifacht haben. Zwei Drittel alles pflanzlichen Lebens wird bis dahin zerstört sein. 55 Prozent der wildlebenden Tiere und 70 Prozent unserer Mineralien und Rohstoffe werden verschwunden sein. 80 von 100 Menschen werden sterben, ohne jemals erfahren zu haben was es heißt richtig satt zu sein. Während eine kleine Minderheit und Klasse in Luxus schwelgt und sich absurde Extravaganzen leistet“. Millar-Anderson werden immer lauter und wütender und zielen jetzt sogar in Richtung Hollywood.

“Ein erfolgreicher Produzent oder Regisseur verdient in Amerika heutzutage in einem Monat schon mehr Geld als nötig wäre, einem hungernden südamerikanischen Indianerstamm für 100 Jahre zu ernähren. Wir verschwenden, wir zerstören und wir klammern uns wie die Wilden der Urzeit an unseren Aberglauben. Wir geben Menschen, die genauso engstirnig und voller Vorurteile sind wie wir selbst, Macht über Kirche und Staat und lassen es zu, dass wir unsere kostbaren Naturreserven als Instrumente der Zerstörung missbrauchen. < Während Abermillionen weiterleiden und hungern müssen, für immer zu einem Leben voller Ungewissheit und Entbehrungen verdammt sind. Und warum ist das so? Das ist so, weil die Menschheit ihre Intelligenz verleugnet und die einzigartige Kraft, die sie ausmacht – das menschliche Gehirn!“. Aber wie aus diesem Dilemma, dieser bevorstehenden Katastrophe herauskommen? “Genesis“, lautet Millars konkrete Antwort auf alles Übel. Ein Instrument, das mit einem überdimensionalen Kopf regiert und dirigiert und Rettung bringen könnte. Ein technisches Wesen in der Größenordnung von Gott.

„BRITANNIA HOSPITAL“ ist eine aufregende, anregende, spannende, unter die Haut gehende Real-Vision und hält cineastische Kultvergleiche mit etwa Kubricks “Dr. Seltsam“ durchaus stand. Der Mikrokosmos einer modernen Alptraum-Klinik als Metapher des gegenwärtigen weltlichen Wahnsinns. Wie das Anderson entwickelt und erzählt, wie er dieses menschlich-ideologische Zustandspuzzle zusammenfügt, ist bestürzend und komisch zugleich. Der Regisseur: “Die Absurditäten menschlichen Verhaltens auf unserem Weg ins 21. Jahrhundert sind viel zu extrem – und viel zu gefährlich-‚ um uns noch Sentimentalitäten oder den Luxus von Tränen zu gestatten. Wenn wir die Menschheit jedoch ganz objektiv und frei von jeder Selbstverliebtheit betrachten, dann dürfen wir hoffen, zu ihrer Rettung beizutragen. Das Lachen mag uns dabei helfen“ (= 5 PÖNIs).

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