Joschka und Herr Fischer Kritik

JOSCHKA UND HERR FISCHER“ von Pepe Danquart (B+R; D 2005-2010; 138 Minuten; Start D: 19.05.2011); selten war ein deutscher Kinotitel so absolut passend, treffsicher. Themenklar. Joseph Martin Fischer, geboren am 12. April 1948 in Gerabronn als Sohn ungarischer Einwanderer, als drittes Kind eines Metzgers. Genannt Joschka. JOSCHKA FISCHER.
60 Jahre Fischer, 60 Jahre deutsche Geschichte. „Triumph der Wut“, bringt es der „Spiegel“ auf den Sinn-Punkt (Ausgabe 19/2011). Eine Zeitreise. In eine hochinteressante deutsche Vergangenheit.

Die Stichworte: Beginnend im muffigen Schwaben. Langenburg, 50 km östlich von Heilbronn, die kleinste Stadt Baden-Württembergs. In der Region Hohenlohe. „Ich bin im Junge Union-Milieu groß geworden“. Der brave Ministrant aus einer konservativen Provinz-Familie („Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter mich jemals gewählt hat“). März 1965: Kurz vor Abschluss des 10. Schuljahres verlässt er das Gymnasium. Die Lehre als Fotograf bricht er bald ab. Der Weg beginnt. Als Polit-Aktivist. Wir blicken auf DAS zurück: 1968. Stadtguerillero. In der Gruppe „Revolutionärer Kampf“. Nach einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg zweimal drei Tage Haft. Arbeit bei Opel in Rüsselheim. Mitbegründer einer Betriebsgruppe. Fristlose Kündigung.

Die Anfänge der Anti-Atomkraft-Bewegung. Die wilden Tage der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Der Frankfurter Sponti. Als Taxifahrer („Im Taxi bin ich zum Realo geworden“). Und Mitglied in der Partei „Die Grünen“. Der politische Weg. Als hessischer Abgeordneter („Am Anfang war das richtig Klassenkampf – vorurteilsbeladen, hassbeladen“). Der brillante wie provokante Redner. Rotgrüne Koalitionsregierung in Hessen. Zur Vereidigungszeremonie als Minister für Umwelt und Energie trägt er am 12. Dezember 1985 Turnschuhe und erregt Empörung („Es musste sein, das wurde ausführlich diskutiert. Eine Macht hatte dieses Symbol bis auf den heutigen Tag – das ist unglaublich“). Joschka Fischer ist das erste Kabinettsmitglied „Der Grünen“ überhaupt. Der als Abgeordneter auch den Bundestag aufmischt: „Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“. Der deutsche Außenminister im Kabinett Schröder. 1998. Der Marathonläufer. Mit wechselnden Anzuggrößen. Bis er das Ziel erreicht: Am 1. September 2006 legt er das Bundestagsmandat nieder. Heute unterrichtet er an renommierten Universitäten, hält Vorträge. Hat seine eigene Beraterfirma gegründet, die „Joschka Fischer & Company GmbH“. „Ich verdanke meiner Partei unglaublich viel. Aber ich habe mich auch an ihr erschöpft“.

Pepe Danquart, der Rock `n Roll-Dokumentarist, nie langweilend, immer widerspenstig-schwungvoll. Einfallsreich. Geboren am 1. März 1955 in Singen. Studium der Kommunikationswissenschaften an der Universität Freiburg (1975-1981); Mitbegründer der dortigen Medien-Werkstatt. In diesem Filmkollektiv entstehen zwischen 1978 und 1981 mehr als 30 Dokumentarfilme, an denen er als Autor, Regisseur und Produzent beteiligt ist („Passt bloß auf“ / „Geisterfahrer – Eine utopische Kolportage“). Und die auf internationalen Festivals ausgezeichnet werden. 1994 erhält Pepe Danquart den „Oscar“ für den „besten Kurzfilm“ „Schwarzfahrer“. Mit seiner filmischen Sport-Trilogie „Heimspiel“ (Eishockey/“Eisbären Berlin“/2000: „Deutscher Filmpreis“)), „Höllentour“ (Tour de France/2004) und „Am Limit“ (über die Extrem-Kletterer Thomas + Alexander Huber/2007) erreicht er Sportfilm-Kultgeschmack. Zwischendurch der zwiespältige Spielfilmversuch an einem internationalen Thriller: „Semana Santa – Die Bruderschaft des Todes“ (2002; mit Mira Sorvino + Olivier Martinez; bei uns gleich auf Video veröffentlicht).

Mit „Joschka und Herr Fischer“ setzt er vor allem auch neue visuelle Spannungszeichen. Kinotauglich wie atmosphärisch. Aus insgesamt rund 300 Stunden Material schuf er 24 kleine Filme. Aus Joschka Fischers Leben. Einschließlich Super 8-Filme aus dessen Kindheit. „Ich wollte eine Authentizität schaffen von Dokument, Jetztzeit und Geschichte“ (Presseheft). Einschließlich eigengedrehtem Material aus den 80ern + 90ern. Und projeziert dieses als Endlosschleifen auf mannshohe, transparente Glaswände in einem ehemaligen Berliner Heizkraftwerk, dem „Club Tresor“. Installationen per Video. Raumgreifend. Den Raum faszinierend füllend. Über das Gestern und das Heute. Eine gespenstische Ironie-Atmo mit dem „doppelten Fischer“. Der sich zwischen diesen seinen Bildern bewegt, konfrontiert mit der eigenen Historie. Diese heute kommentiert. Ein toller Kniff. Wenn „beide Fischers“ zu einer Person verschmelzen. Und das Ich-Heute das Ich-Gestern kommentiert. Begleitet von Exkursen mit Zeitzeugen „jener Jahre“ wie Hans Koschnick, Bremer SPD-Urgestein, Katharina Thalbach, DDR-Pflanze, Daniel Cohn-Bendit, dem streitbaren Weggefährten, oder der Gruppe „Fehlfarben“, die Punkrock-Band mit dem „Hausbesetzer“-Hit „Ein Jahr (Es geht voran)“ von 1982.

Knallig. Bewegend. Aufwühlend. Informativ. Prallgefüllt. Jederzeit reizvoll. Als spannender Geschichtsunterricht. Über eine packende deutsche Biographie. Konsequent politisch, ohne Boulevard. Toll (= 4 PÖNIs).

Teilen mit: