JAHRHUNDERTFRAUEN

PÖNIs: (4,5/5)

„JAHRHUNDERTFRAUEN“ von Mike Mills (B + R; USA 2015; K: Sean Porter; M: Roger Neill; 118 Minuten: deutscher Kino-Start: 18.05.2017); ich lese (sehr) gerne. Bin dann „weg“, tauche ein in die auf Papier formulierte Welt und lasse genüsslich Gedanken und Vorstellungen entstehen. „20th Century Women“, so der Originaltitel, ist wie das wunderbar inspirierende Eintauchen in einen Roman. „Nur“ mit jetzt lebenden Bildern, aber nicht minder erfrischenden (vielen) Worten und höchst köstlichen Gedanken. Kein Wunder also, dass wir hier auf „literarische“ Sätze stoßen wie: „Ein gebrochenes Herz ist der beste Weg, etwas über die Welt zu lernen“. Oder: „Also sich zu fragen, ob man glücklich ist, ist der beste Weg in eine hübsche Depression“. Wie auch: „Ich kenne ihn mit jedem Tag ein Stück weniger“. Gemeint ist der 15-jährige Jamie Fields (LUCAS JADE ZUMANN). Der wächst anno 1979 im kalilfornischen Santa Barbara alleine bei seiner 55-jährigen Mutter Dorothea (ANNETTE BENING) auf. Der Vater ist vor Jahren weggegangen und meldet sich zu den obligatorischen Geburts- und Weihnachts-Tagen. Dorothea arbeitet als Zeichnerin in einem Architektenbüro, ist ein liberaler Freigeist, sie ist Dauerraucherin, die alte Humphrey Bogart-Filme mag und Birkenstock-Schuhe trägt, weil sie bequem sind. Jeden Tag studiert sie die Börsenkurse mit Jamie. Von dem sie meint, dass er ihr an jedem neuen pubertären Tag mehr und mehr „entgleitet“. Also „engagiert“ sie zwei Bekannte. Zum einen ist da Abbie (GRETA GERWIG), eine Punk-Fotografin und Feministin, der sie ein Zimmer in dem großen Haus vermietet hat, sowie aus der Nachbarschaft die 17-jährige Julie (ELLE FANNING), auf die Jamie „scharf“ ist, die aber eine intime Kontaktaufnahme ablehnt, weil dann ihre Freundschaft darunter leiden würde. Und auch William (BILLY CRUDUP) gehört zur kleinen Gemeinschaft, der Ex-Hippie nutzt ein weiteres Zimmer und renoviert dafür das alte Holzhaus und repariert Autos.

Michael „Mike“ Mills: Der 1966 im kalifornischen Berkeley geborene Musikvideo- und Filmregisseur und Grafik-Designer benutzt gerne eigene Familien-Erlebnisse, um sie zu gewitzten, originellen und sehr atmosphärischen Film-Dramen umzupolen. Zuletzt ist ihm dies 2011 mit seinem zweiten Spielfilm „Beginners“ (s. Kino-KRITIK) gelungen, als er das späte Coming-out seines Vaters belichtete. Veteran Christopher Plummer wurde dafür mit einem „Oscar“ belohnt. „Doktor Freud in Partylaune“, titelte damals „Der Spiegel“ begeistert. Jetzt ist die Mama „dran“. Und die göttliche ANNETTE BENING („American Beauty“) hätte mit diesem Part einer überfürsorglichen Mutter aus den auslaufenden amerikanischen 70er Jahren unbedingt eine Nominierung verdient gehabt. Mike Mills bekam „wenigstens“ eine „Oscar“-Nominierung für sein wunderbares Skript.

Was passiert: Vergleichsweise nicht viel. Und doch andauernd Gefühls- wie Gedanken-Aufregendes. Zum Empfinden und zum eigenen Erinnerungs-Beschäftigen bestens geeignet. Dabei gibt es hier keine Fakes, keine Explosionen, kein Hauen und Stechen, keine Superhelden und keine Brachial-Klänge. Stattdessen dürfen wir Wort(e) ernst (auf-)nehmen; haben wir es mit „echten Menschen“ nachvollziehbar und intensiv zu tun, erleben die gesellschaftliche „Übergabe“ von Pop zum rebellischen Punk (die „Talking Heads“ werden zu „Kunstschwuchteln“ erklärt) und blicken auf einen klitzekleinen faszinierenden Menschen-Kosmos, in dem aufmüpfige Frauen sich nicht (mehr) die gesellschaftliche Mitführung aus den Händen nehmen lassen. Überhaupt: endlich einmal bärenstarke Frauen an der Lichtspiel-Rampe. Zum Genießen amüsant in Sachen alternative Lebensformen-probieren, Aufbruchstimmung, die aneckenden Versuche von Selbstverwirklichung. ANNETTE BENING als Dorothea ist tatsächlich „eine der schönsten Frauengestalten des zeitgenössischen Kinos“ („Film-Dienst“/10/2017). GRETA GERWIG („Frances Ha“) hat in Hollywood inzwischen als „weiblicher Neurosen-Woody Allen“ viel Respekt und Beachtung erreicht, und ELLE FANNING (zuletzt in „The Neon Demon“) zählt zum angesagten Nachwuchs in der US-Branche. Die 3 zu erleben ist ein („Bühnen“-)Leinwand-Genuss, wobei ihr „Klient-Patient“ LUCAS JADE ZUMANN als entwicklungsfähiger Jamie hervorragend mithält.

Auch hörenswert musikalisch: „JAHRHUNDERTFRAUEN“ ist eine humorvoll-eigenwillige Wehmut-Zeitreise in die nicht nur amerikanischen Siebziger, in die Welt-Epoche, als sich die Unschuld vom Leben immer mehr abnabeln sollte (= 4 1/2 PÖNIs).

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