Hamburger Kinotage

DIE INDIVIDUEN UND IHR KINO

Die 12. HAMBURGER KINOTAGE – Ein Bericht von Hans-Ulrich Pönack (1985)

In Hamburg ist alles anders. Die alljährlichen fünftägigen Filmtage sind programmmäßig überschaubar, an den Vormittagen bleibt für den Journalisten sogar Zeit, anständig auszuschlafen oder in der Stadt herumzubummeln, und in den Räumen der beiden an der Uni gelegenen “Abaton“-Kinos sowie an der Kino-Bar und in der angeschlossenen großräumigen Kneipe findet sich immer Platz und eine Vielzahl von interessanten Gesprächspartnern.

Nirgendwo anders als hier können Kino- und Filmleute, Off-Verleiher, Publikum und Journalisten so zwanglos und ohne Zeitdruck Kontakt aufnehmen. Eine gemütliche, offene, angenehme Atmosphäre, wie sie nicht einmal mehr Hof bieten kann, wo sich alle nachts in einer völlig überfüllten, verrauchten Pinte sehen, aber nicht treffen. 180 seien sie inzwischen, “180 Individuen“, bilanzierte Werner Grassmann nicht ohne Stolz die derzeitige Mitgliederzahl des Veranstalters, der Arbeitsgemeinschaft Kino, in der sich bekanntlich die. bundesdeutschen Programmkinomacher gegen die übermächtige “Vernichtungskonkurrenz“ (Grassmann) zu behaupten versuchen. Der AG-Chef legte dabei ausdrücklich auf die Betonung ‘Individuen‘ Wert, denn in dieser Gemeinschaft gibt es nicht die ‘Großen‘, die die ‘Kleinen‘ dulden, aber kaum zur Kenntnis nehmen. Jeder, egal ob Einzelkämpfer oder Mehrfachkinostratege, steht sich in Rechten und Pflichten gleich (was verständlicherweise die Zusammenarbeit nicht sehr einfach gestaltet). Von den rund 25 internationalen Filmen, über die das Publikum mittels Kartenabstimmung “gut“, “Mittel“, “schlecht“ befinden konnte, waren einige programmkinohitverdächtige Beiträge dabei.

Zum Beispiel „Erst die Arbeit und dann?“ von Detlev Buck, der in einer wohltuend unterhaltenden Dreiviertelstunde die skurril-witzigen Erlebnisse eines holsteinischen Bauernjungen in Hamburgs Schickeria-Szene beschreibt. Oder der russische Gegenwartsstoff

Bahnhof für Zwei“ von Eldar Rjasanow, der sein Land vor zwei Jahren in Cannes vertrat und der in seiner Heimat zum erfolgreichsten Film des Jahres mit mehr als 65 Millionen Zuschauer wurde: eine überaus turbulente, ironisch-durchtriebene, hintergründige Liebesgeschichte über den Versuch eines Mannes, in ein Straflager nach Sibirien zu gelangen. Oder das jugoslawische Vergnügen

Der Würger“ von Slobodan Sijan, in der ein Enkel von Peter Lorre auf den Psycho-Spuren des “Rosaroten Panthers“ meuchelnd lustwandelt. Oder die spannende schwedische Kriminalgeschichte „Der Mann aus Mallorca “ von Bo Widerberg, einem der profiliertesten Erzähler des schwedischen Kinos, der hier einen hohen Politiker auf schmutzigen Abwegen präsentiert. Oder „Terror in the Aisles“ von Andrew J. Kuehn, einem einzigartigen Sammelsurium von wirklichen Höhepunkten aus Hollywoods Horror- und Gruselkabinett (die Experten werden rasen vor Grausen). Oder „Les Princes“ von Tony Gatlif, einer unter die Haut gehenden, brillanten Zigeunerstory, die jetzt bereits ins reguläre Kino kommt . Ob diese und die zahlreichen anderen Filme aber überhaupt demnächst “richtig“ ausgewertet werden können, wird auch die zukünftige Arbeit der AG Kino und ihres „FifiGe“-Verleihs zeigen. Denn auch die Programmkinosituation befindet sich bei uns im Umbruch. Obwohl die Hälfte der Mitglieder derzeit immer noch auf Zuwachsraten beim Publikumsbesuch verweisen kann, ist es insgesamt erforderlich, die Stellung und die Identität zu überdenken und neu u formulieren.

“Der Spaß der Pionierzeit“ sei nun vorbei, konstatierte Werner Grassmann auf der abschließenden Pressekonferenz und verwies auf akute anstehende Probleme, mit denen die bundesdeutschen Programmkinomacher zunehmend belastet seien. Der Verleiherstock werde immer geringer, das Material dagegen immer dürftiger, viele Kopien seien unspielbar, neue würden nicht mehr gezogen werden, die Garantien der Anbieter stiegen in unbezahlbare Höhen (manchmal bis zu 500 Mark pro Tag und Abend). Dazu kämen zunehmend Schwierigkeiten durch die Erstaufführer, die mit ihrer totalen Auswertung in ihren Schachtelhäusern – “das ist kriminell“ – keine Chance mehr für das Mit- und Nachspielen von neuen Filmen ließen. Zwar repräsentiere man mit ca. 12% von insgesamt rund 112 Millionen Besuchern pro Jahr (1984) keinen geringen Marktanteil (immerhin 15-18 Millionen Besucher), dennoch seien die AG – Mitglieder durch die Häufung dieser Kleinkinos und deren ständig steigende Erstaufführungswünsche von den Filmlieferungen “regelrecht abgeschnitten“, was nun – wenn es nicht in den zur Zeit laufenden “Schlichtungstreffen“ doch noch zu akzeptablen Kompromissen kommt – zur kartellrechtlichen Überprüfung und Klärung führen müsse. Darüber hinaus wollen die Programmkinos in Zukunft offensiver in der Öffentlichkeitsarbeit und persönlicher in der individuellen Publikumsbetreuung werden, wollen sich nicht mehr nur als spezielle Künstler- und Cineasten Ecke verstehen und verstecken, als politische Sektierer“ wie in den Siebzigern (“…dazu ist auch die filmische Risikobereitschaft des Publikums zurückgegangen“), sondern mehr aufs Publikum und dessen Wünsche und Bedürfnisse setzen, ohne dabei allerdings die (künstlerische wie politische) Identität aufs Spiel zu setzen. Das Off-Kino der Zukunft wird nicht mehr nur der schlichte Saal mit dem linken Anspruch, sondern auch die perfekte Technik und das umgängliche Know How sein. Weil man sich nicht mehr nur auf “Brotfilme“ wie “Easy Rider“ oder „Harold and Maude“ setzen kann und will, wird jetzt das Repertoireangebot reaktiviert. Mit unbekannten Bergmans beispielsweise, nagelneuen, diskutablen US-Komödien oder Kurosawa-Schätzen. Das “Reihen-Kino“ soll wieder eingeführt werden.

Gegenwärtig ist eine Liste mit mehr als 80 Filmen erstellt, aus der „sortiert und gesucht“ wird. Grassmann wörtlich: “Wir müssen wieder die Filmkunstarbeit beleben“. Der deutsche Film zählt allerdings, momentan jedenfalls, nicht dazu. Die hiesige Filmförderungsgesetzgebung sei derzeit ebenso marode wie der Zustand der heimischen Filmemacher. Die vorgeschriebene Filmförderungsabgabe von 3,75% des Eintrittspreises pro Besucher ist nicht mehr zu bezahlen, “wir müssen davon befreit werden“, und Gewinn machen beim deutschen Film doch nur noch die Produktionen, “und einige leben davon nicht schlecht“. Nach 15 Jahren Filmförderung, so der Vorstand der AG, sei es endlich an der Zeit, interessante, kinogerechte Filme herzustellen, aber “deutsche Filmemacher denken zu sehr an sich als ans Publikum“. Man wolle keine Pauschalverteufelung, aber irgendwo “sind wir nicht mehr bereit, das Desaster zu fördern“. Dabei, so der Bremer Kinobetreiber Gert Setje, sei “das Kino immer noch der letzte Ort, wo grenzenlose Freiheit möglich ist“, aber welcher Autor/Regisseur bei uns nimmt das überhaupt wahr? Man werde, um ja nicht missverstanden zu werden, zukünftig auch weiterhin offen und risikobereit sein, aber aus der veränderten allgemeinen Kino- und Medienlandschaft heraus stoße dies jetzt auch des Öfteren an die Grenze des Existenziellen.

Nach zehn Jahren harter, mühevoller Kleinarbeit an der Basis und durch die Instanzen und Gremien geht es bei unseren Programmkinos jetzt um ein künstlerisch, wirtschaftlich, aber auch politisch vernünftiges Erwachsenwerden.

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