Gastkritik „Food Inc“

Gastkritik von Alex Lohse

Wenn es im Moment einen Film gibt, der quasi als Verfilmung unserer tagesaktuellen Schlagzeilen zum Thema Dioxin in Eiern und Schweinefleisch durchgeht, dann ist es dieser amerikanische Dokumentarfilm,

Food, Inc. -Was essen wir wirklich?“ von Robert Kenner (USA 2008; 94 Minuten; DVD-Veröffentlichung:
5.11.2010).

„Food, Inc.“ – übersetzt in etwa „Die Nahrungsmittel AG“ – eröffnete 2009 das „kulinarische Kino“ der Berlinale , unser Berliner Sternekoch Tim Raue verpasste dem Film das Qualitätssiegel „großartig“ und bekochte damals das beeindruckte Premierenpublikum im Friedrichstadtpalast mit Kürbiseintopf. Einen deutschen Verleih fand der Streifen dennoch nicht, er wurde aber 2010 geadelt durch eine Oscarnominierung und ist Anfang November auf DVD und BluRay erschienen.

Der amerikanische TV-Dokumentarfilmer Robert Kenner – übrigens kein Körnerfresser, sondern ein bekennender Hamburger-Fan – arbeitete über 6 Jahre an diesem Film, dessen Grundprämisse vom deutschen Titel gut zusammengefasst wird. Was ist eigentlich drin in unserem Essen in den vielen bunten Verpackungen im Supermarkt? Unter welchen Bedingungen wird es hergestellt und haben Landwirtschaftsbetriebe noch irgendetwas zu tun mit den Bildern von Fachwerkbauernhöfen und auf grünen Wiesen grasenden Kühen, wie sie uns von unseren Butter- und Wurstverpackungen noch in Erinnerung sind? Kenner möchte den Schleier lüften, den die Nahrungsmittelindustrie – und das sind in der Mehrheit nur noch einige wenige Riesenkonzerne, die transparentes Geschäftsgebaren scheuen wie der Teufel das Weihwasser – uns beim Betreten eines Supermarktes vor die Augen hält.

Der geneigte Zuschauer ahnt insgeheim schon, was jetzt kommt, denn ein ehrlicher Blick hinter die Kulissen der Nahrungsproduktion kann als Resultat nur einen Horrorfilm hervorbringen – allein das sagt schon eine Menge darüber aus, wie es um Nahrungsmittelproduktion und Tierhaltung im 21. Jahrhundert bestellt ist. Im Fernsehen würde man jetzt 30 Sekunden tote Kälberhälften betrachten und schnell das Programm wechseln – halb aus Ekel, halb aus schlechtem Gewissen, aber hier bleibt man gefesselt. Und das liegt daran, dass dieser Film nicht auf Schockeffekte setzt, sondern auf eine messerscharfe Analyse der teilweise wirklich unglaublichen – vor allem unglaublich profitorientierten – Bedingungen, unter denen unser Essen produziert wird. Natürlich bleiben unappetitliche Szenen bei diesem Sujet nicht aus, das wäre, als wolle man einen Cowboyfilm ohne Pferde drehen, aber Kenner baut v.a. auf solide Recherche. An seine Seite holte er sich Michael Pollan – Bestsellerautor und DER Nahrungsmittelkritiker in den USA schlechthin – und Eric Schlosser, dessen Buch „Fast Food Nation“ 2006 immerhin von Richard Linklater verfilmt wurde.

Und was dieses Autorenteam für ein beziehungsreiches Netz an gut recherchierten Fakten aufspannt und visuell aufbereitet, das beeindruckt: die Geschichte McDonalds, was es bedeutet, wenn Kühe nicht mehr Gras, sondern maisbasierte Futtermittel bekommen (der Futtermittelskandal klingt uns ja noch in den Ohren), wie es klingt und aussieht, wenn man 30000 Hühner in einen verdunkelten Stall sperrt, was passiert, wenn man Qualitätskontrollen den Konzernen selbst überlässt, welche Macht die Lebensmittellobby hat und wie gefährlich unser Essen wirklich geworden ist, wenn es in raumschiffartigen Fabriken produziert wird, durch die die Kamera wie in einem Startrekfilm schwebt, das zieht einen in den Bann wie ein komplex konstruiertes Mafiaepos. Mit jeder Minute in der Food, Inc. die Pappfassade herunterreißt, die die Nahrungsmittel-industrie zwischen uns und unserem Essen aufgestellt hat, wird man wütender, weil man weiß, da sitzt kein Marlon Brando als schauspielernder Pate und verfolgt kriminelle Ziele, sondern die Nahrungsmittel-Mafia ist real, und sie bekommt täglich unserer Geld an der Supermarktkasse.

Was eine besondere Qualität dieser Dokumentation ausmacht, ist, dass sie uns nicht alleine lässt mit unserer Wut und der trostlosen Wahrheit, dass wenn man weiß, wo das Hühnerfilet herkommt, man es möglicherweise nicht mehr essen möchte. Robert Kenner zeigt uns nämlich Alternativen, Erfolgsgeschichten von Firmen und herkömmlichen Bauernhöfen, die außerhalb dieses kranken Systems durchaus erfolgreich daran arbeiten, unter dem Siegel biologischer, nachhaltiger Landwirtschaft wieder Nahrung zu produzieren, die nicht krank macht und ethisch weniger fragwürdig ist.

Natürlich ist diese Dokumentation ausgerichtet auf die amerikanische Landwirtschaft, dies war sicher einer der Gründe, warum ein oscarnominierter Film in Deutschland keinen Verleiher fand. Aber fast alle Entwicklungen in der Landwirtschaft sind 1:1 auf Deutschland übertragbar, zT sind es auch hier die selben multinationalen Großkonzerne, die die Supermarktregale, Schlachthäuser und Felder kontrollieren. Umso wichtiger, dass man sich nun auch hierzulande auf DVD informieren kann über ein Thema, das wirklich jeden von uns betrifft. Denn, wie Robert Kenner eingangs erklärt: Wie und was wir Menschen essen hat sich in den letzten 50 Jahren grundlegender verändert als in den letzten 10000 Jahren. Kurzweiliger und intellektuell anregender und aufregender kann man die Folgen dieser Entwicklung nicht darstellen. Und hochaktuell bleibt dieser Film auf Jahre, denn nach dem Lebensmittelskandal ist inzwischen leider immer auch vor dem nächsten Lebensmittelskandal (= 4 LOHSIs).

Anbieter: „Sunfilm“

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